Futuo tua mater

Marco Ratschiller | veröffentlicht am 04.11.2010

Die Geschichte der menschlichen Kultur war immer schon auch eine Geschichte des Jammerns über den Kulturzerfall. «Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos», wurde schon 2000 vor Christus in Chaldäa in ortsüblicher Keilschrift konstatiert.

Futuo tua mater
Swen (Silvan Wegmann) | (Nebelspalter)

Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass sich die Jugendproblematik in den vergangenen vier Jahrtausenden nicht allein auf das Gebiet im heutigen Südirak beschränkt. Dichter und Denker wie Sokrates, Aristoteles, Plutarch oder jüngst Gölä erhoben im Laufe der Jahrhunderte ihre besorgte Stimme wider den Zerfall menschlicher Sittlichkeit.


Wenn also die Klage über Verluderung und Wertezerfall gewissermassen eine an­thropologische Konstante darstellt, werden Sie sich als Leser womöglich zu Recht die Frage stellen, warum Ihre Lieblingszeitschrift sich des Themas dennoch und gerade jetzt annimmt. Vielleicht nur, weil am vermeintlichen Niedergang des Abendlandes nichts neu ist - bis auf die Tatsache, dass im Zeitalter der totalen Öffentlichkeit, der omnipräsenten Googability und GPS-Kamerahandys jeder Normverstoss einen breitenwirksamen Skandal und eine ausführliche Feuilletondebatte nach sich zieht?


Das greift zu kurz. Das Problem an der «heutigen Jugend» ist, dass der Jugendwahn unserer Tage die wahre Reife des Erwachsenendaseins bis in jene Regionen verschoben hat, in denen normalerweise Gehhilfen durchs Altersheim geschoben werden.


Wenn also der Schönenwerd-Raser Cemal A. nach seiner Verurteilung letzte Woche den Gerichtsreportern noch «Ich ficke deine Mutter» nachgerufen hat, dann stimmt nur bedingt, dass Cicero so etwas Unerhörtes  nie zu Ohren gekommen wäre. Damals sagte man einfach «Futuo tua mater.»

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