Zwei mal Zwei

Dietmar Füssel | veröffentlicht am 08.09.2011

«Ich habe in den vergangenen Wochen leider feststellen müssen, dass ihr alle in Rechnen grosse Probleme habt», sagte der Lehrer zu den Schülern der dritten Volks-schulklasse.

Zwei mal Zwei
Johannes Borer | (Nebelspalter)

«Ich will ganz bestimmt nichts Schlechtes über eure Lehrerin sagen ? ich weiss ja, wie gern ihr sie gehabt habt ? aber anscheinend hat sie doch das Einmaleins etwas zu sehr vernachlässigt. Deshalb werde ich heute noch einmal ganz von vorne anfangen, damit ich mir endlich ein genaues Bild machen kann, was ihr alles könnt und was nicht. Also, fangen wir an. Wie viel ist zwei mal zwei? Veronika.»

Veronika blieb stumm, aber das überraschte den Lehrer nicht, da sie bisher noch nie eine seiner Fragen beantwortet hatte. Seiner Meinung nach wäre sie in einer Sonderschule wesentlich besser aufgehoben gewesen; wandte sich dem nächsten Schüler zu.

«Karli?»

«Ja? Was denn?», fragte Karli.

Anscheinend war er nicht ganz bei der Sache gewesen.

«Wie viel ist zwei mal zwei?»

«Eine Torte», antwortete Karli prompt.

«Aber nein, Karli», seufzte der Lehrer. «Ich weiss natürlich, was du gemeint hast: Wenn man eine Torte zweimal durchschneidet und dann die Stücke zusammenzählt, kommt wieder eine ganze Torte heraus. Da hast du natürlich völlig recht. Aber das war nicht meine Frage. Werner: Wie viel ist zwei mal zwei?»

«Äh ? vielleicht sechs?», fragte Werner unsicher. Offenbar zweifelte er selbst an der Richtigkeit seiner Antwort.

«Das ist leider falsch», stellte der Lehrer fest und beschloss, es nun mit jener Schülerin zu versuchen, die, wenn man den Unterlagen seiner Vorgängerin Glauben schenken durfte, in den ersten beiden Jahren die beste gewesen war:

«Maria.»

«Zwei mal zwei ist zwei zum Quadrat», antwortete Maria wie aus der Pistole geschossen.

«Ich finde es wirklich ganz toll, dass du das schon weisst, obwohl ihr das erst viel später lernen werdet», erklärte der Lehrer. «Und wie viel ist denn nunr zwei im Quadrat?»

«Zwei mal zwei natürlich», sagte Maria.

«Ja, schon, aber das ist nicht das Ergebnis. Ich möchte jetzt gern  das Ergebnis hören.»

«Das ist eine Gleichung», erklärte Maria. «Und wenn man in einer Gleichung die eine Seite von der anderen abzieht, kommt null heraus. Meinen Sie das?»

«Aber nein, das ist doch viel zu kompliziert», sagte der Lehrer, unter dessen Kopfhaut es allmählich zu kribbeln begann. «Passt auf, ich werde euch etwas zeigen.»

Er ging zur Wandtafel, nahm sich ein Stück Kreide, zerbrach es in vier Teile und legte die entstandenen Stücke in zwei Zweiergruppen vor sich auf den Katheder. Plötzlich begann ein Mädchen zu weinen.

«Was hast du denn, Silvia? Warum weinst du?», erkundigte sich der Lehrer.

«Die arme Kreide!», schluchzte Silvia. «Sie war so schön. Und jetzt ist sie tot!»

«Oh nein!», stöhnte der Lehrer und raufte sich verzweifelt die Haare. «Das darf doch wohl nicht wahr sein! Bin ich hier etwa in einem Irrenhaus?»

«Nein», dachte Maria und lächelte grimmig. «Leider noch nicht. Aber wenn wir alle zusammen jetzt nicht locker lassen, ist das nur noch eine Frage der Zeit. Und dann bekommen wir hoffentlich unsere liebe, alte Lehrerin wieder zurück??»


Dietmar Füssel

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