
Keiner möchte gern als Spiesser gelten. Aber jeder kennt mehr als einen, den er - wenn auch meist unausgesprochen - für ausgesprochen spiessig hält.
Mag das sogenannte gute Bürgertum hundertmal totgesagt worden sein, das miese Spiessbürgertum ist nicht totzukriegen. Spiesser, das ist ja auch nur die Kurzform vom Spiessbürger.
Und den gab es schon im Mittelalter: Damals war der ? vor allem finanziell ? so minderbemittelt, dass er sich zu seiner Bewaffnung nur einen Spiess leisten konnte und allenfalls einen Schild dazu. Die solcherart knapp gewappneten Stadtbewohner wurden deshalb bald leise bespöttelt oder laut ausgelacht. Schon im 17. Jahrhundert galt unter Studenten die Bezeichnung Spiessbürger, wie übrigens Schildbürger auch, als Schimpfwort für einen engstirnigen und beschränkten Menschen, kleinlich im Denken und im Handeln.
Die Kurzform, die um 1900 aufkam, konnte dieses Image nicht aufbessern. Es blieb dabei: Niemand, der hundertprozentige Spiesser schon gar nicht, lässt sich gern einen Spiesser schelten, niemand lässt sich gern nachsagen, er sei spiessig angezogen, eingerichtet und eingestellt. Trotzdem blüht und gedeiht das Spiessertum auch heute und feiert fröhliche Urständ, im jeweils neuesten modischen Gewand.
Der moderne Spiesser ist nämlich nicht von gestern. Statt der Hellebarde führt er dicke Stossstangen ins Gefecht. Statt dem Schild in der Hand hat er die Schüssel auf dem Dach. Durch Rechtsschutz und Diebstahlsicherung schützt er sich selbst und sein Hab und Gut, während er um den Erdball jettet und dabei doch in sich selber ruht. Denn das ist es, was der Spiesser jederzeit tut.
Da die spiessbürgerliche Welt so klein und überschaubar ist, dass sie in jeden Kopf und jeden Koffer passt, traut sich der Spiesser auch jederzeit und überall ein Urteil zu ? vorgefasst, vorlaut und, wie er glaubt, vernichtend für die Betroffenen. Er selbst fühlt sich nie getroffen. Denn von allen Vorurteilen des Spiessers ist dieses am unerschütterlichsten: unter allen Verdächtigen als Einziger unverdächtig zu sein.
Ein Spiesser, der sich selbst so nennen würde, wäre denn auch kein rechter Spiesser mehr, hätte nur die eine oder andere spiessige Ansicht über dies und jenes ? wie jeder von uns. Stattdessen dreht er den Spiess um: «Ich bin gewiss kein Spiesser», sagt er, «aber was zu weit geht, geht zu weit!»