
Lieber Beichtvater
Ich bin ganz verwirrt und verwundert. Es gibt doch da in eurem Buch voller Gleichnisse das Gleichnis von den Talente ...
Lieber Beichtvater
Ich bin ganz verwirrt und verwundert. Es gibt doch da in eurem Buch voller Gleichnisse das Gleichnis von den Talenten. Da war doch irgendetwas. Zwar erinnere ich mich nicht mehr an den Wortlaut, doch der Sinn, und darauf kommt es letztlich doch an, der Sinn ist mir geblieben.
Wer seine Talente nicht nützt, sie quasi brachliegen lässt, macht etwas falsch. Wer also das, was er hat an potenziellen Fähigkeiten, einfach ruhen lässt, statt sie einzusetzen, statt damit zu spekulieren, macht einen Fehler. Die Talente einsetzen, statt sie durch Nicht-Nutzung vergeuden; das ists doch wohl. Bei der Lotterie spricht man vom Einsatz, beim Roulette, bei jedem Glücksspiel.
Haben denn, so meine schüchterne Frage, all jene Banker und Kundenberater nicht richtig gehandelt, wenn sie die Leute zum Spekulieren animiert haben, statt ihr Geld auf einer Bank zu deponieren oder es gar in der Matratze ruhen zu lassen? Man könnte weitergehen: Wer das Talent hat, andere übers Ohr zu hauen, würde er sich im Grunde nicht versündigen, wenn er sein Talent nicht anwenden würde? Und die Volksverhetzer: Was tun sie anderes, als ihre Talente einsetzen?
Du siehst, lieber Beichtvater: Ich bin ganz durcheinander. Wie soll ich mit meinem offenkundigen Talent, das Vordergründige, scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen, bloss umgehen?
Da fällt mir eben ein: Was heisst denn «Talente», wenn ich auf einem Hügel wohne und kein Wasservogel bin? Mir schwant Übles. Ich flehe dich an, lieber Beichtvater: Entwirre (ich werde den Wasservogel nicht mehr los!) meine verfluchte (Entschuldigung) Verwirrtheit!
Tiefneunungsleer grüsst
Anton Tüpfli-Kacker
Mein lieber Sohn Anton
Es ist in der Tat nicht einfach mit dir. Und es gibt Menschen, die haben die Begabung, alles so zu drehen, dass es ihnen ins Konzept passt. Ich nehme mich dabei nicht aus, weiss um mein Talent, um den heissen Brei herumzureden. Gehört anderseits aber auch zu meinem Kerngeschäft, viel zu reden und wenig zu sagen.
Im Ernst: Es gibt keine Menschen ohne Talente. Die Frage ist bloss: Ist dein Talent gefragt oder eben nicht? Und das ändert, wenn nicht von Tag zu Tag, so doch von Epoche zu Epoche. Und manchmal, wenn das Talent des Zeitgeistes, nach Lust und Laune Trends zu setzen, nach sofortiger Realisierung schreit, gehts noch um einiges schneller.
Im Augenblick schreit er nach Transparenz: Wikileaks, Whistleblowing, die Aufdeckung unserer wüsten Klosterschulgeschichten (du siehst, ich bin auch schon infiziert), die gierige Suche nach Leichen in den Untergeschossen öffentlicher Personen. Nun hat einerseits das Aufdeckertalent Konjunktur; anderseits entwickelt sich gleichzeitig das Talent der Leichenentsorgung. Mir kommt das vor wie ein sportlicher Wettkampf, ein gegenseitiges Sich-Hochschaukeln, wie die Partie «Dopingsünder gegen Dopingfahnder».
Du, mein lieber Sohn, verfügst offensichtlich über die edle Gabe, genau hinsehen zu können und hinter die Fassaden blicken zu wollen. Ich kann dir nur wünschen, dass die Mauern stabil genug sind, denn ich bin nicht sicher, ob du den Blick dahinter ertragen könntest. Dazu braucht es ein anderes Talent. Das Talent des Relativierens und des Wegblickens im richtigen Moment. Mit Verlaub: eine meiner Stärken.
Manche Talente wollen entsorgt sein.
Dein Beichtvater
Aufgezeichnet von:
Peter Weingartner