Absolut nichts

Dietmar Füssel | veröffentlicht am 08.11.2012

Nachdem Peter am Morgen sein Bett verlassen und sich angekleidet hatte, warf er einen Blick aus dem Fenster und stellte verdutzt fest, dass da draussen nichts mehr war. Keine Wiese mehr, keine Bäume mehr, kein Nachbarhaus mehr, kein Himmel mehr, nur noch ein weisses Nichts.

Absolut nichts
Bettina Bexte | (Nebelspalter)

Es war, als hätte irgendein Witzbold Peters Scheiben über Nacht mit weisser Farbe bemalt.

Peter öffnete das Fenster, doch dadurch wurde nichts anders. Vorsichtig streckte er seine rechte Hand aus und tauchte mit seinem Zeigefinger in das weisse Nichts ein.

Als er aber seine Hand wieder zurückzog, war die Spitze seines Zeigefingers nicht mehr da.
Allerdings war er nicht etwa verwundet, vielmehr sah seine Hand so aus, als wäre er bereits ohne Zeigefingerspitze geboren worden.

«Ich werd verrückt», murmelte Peter. «Oder besser gesagt: Ich bin es schon.»

Er ging zum Telefon und wählte den Notruf der Rettung.

Als sich daraufhin eine freundliche Frauenstimme mit «Hier Notrufzentrale» meldete, war er sehr erleichtert, denn das bedeutete, dass es da draus­sen also doch noch etwas gab.

«Hier Peter Furtner», sagte er. «Ich habe soeben ein Stück meines Zeigefingers und meinen Verstand verloren. Bitte kommen Sie schnell. Meine Adresse ist Aibling, Haus 15.»

«Alles klar, Herr Furtner», antwortete die Frauenstimme. «Bitte bleiben Sie ganz ruhig. Wir sind in zirka 20 Minuten bei Ihnen.»

Ungefähr eine halbe Stunde später hielt ein Rettungswagen vor dem Haus Aibling Nummer 15.

«So, da sind wir», sagte der Fahrer zu seinem Beifahrer:

«Was meinst du, Karl: Sollen wir gleich eine Zwangsjacke mitnehmen?»

«Nein, Fritz, ich glaube nicht, dass das nötig sein wird», antwortete Karl. «Schliesslich hat dieser ?» - er warf einen Blick auf seine Notizen - «dieser Furtner uns selbst angerufen.»

«Das schon. Aber womöglich hat er es sich inzwischen anders überlegt», wandte Fritz ein. «Ich nehme lieber doch eine mit. Sicher ist sicher.» - Sie verliessen den Wagen, gingen zur Haustür und klingelten. Die Tür wurde geöffnet, und Peter stand vor ihnen.

«Ist da jemand?», fragte dieser recht unsicher.

«Ich glaube, er sieht uns nicht», flüsterte Fritz seinem Kollegen zu und sagte laut: «Guten Tag, Herr Furtner. Sie haben einen Rettungswagen bestellt. Und da sind wir.»

«Ist da jemand?», fragte Peter noch einmal.

«Anscheinend hört er uns auch nicht», stellte Karl fest. «Total weggetreten. Am besten, wir schnappen ihn uns einfach, bevor er die Tür wieder zumacht.»

«Ist gut», sagte Fritz.

Als plötzlich aus dem Nichts Hände auftauchten, ihn mit festem Griff packten und ins Weiss hinauszerrten, schrie Peter gellend auf vor Entsetzen - und brach gleich darauf tot zusammen.

«So eine verdammte Scheisse», fluchte Karl, während Fritz Peters Hals befühlte, um festzustellen, ob noch ein Puls vorhanden war. «Machst du die Herzmassage?»

«Nicht nötig. Bei dem kommt jede Hilfe zu spät», antwortete Fritz. «Und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sogar glauben, dass er schon eine ganze Weile tot ist, so kalt ist er schon.

Schau ihn dir doch an. Mehr tot als der geht überhaupt nicht mehr.»

«Das stimmt», bestätigte Karl. «Den könnte höchstens der Dr. Frankenstein wieder ins Leben zurückholen, und der ist auch schon tot. Also dann.»

Sie hoben die Leiche auf, luden sie in den Rettungswagen und machten sich auf den Rückweg ins Krankenhaus. Dort angekommen, stellten sie verblüfft fest, dass unterwegs aus der frischen Leiche ein Skelett geworden war.

«Schöne Scheisse», murmelte Fritz. «Möchte bloss wissen, wie wir das irgendwem erklären sollen.»

«Anscheinend hat der Chef doch recht, wenn er sagt, dass du manchmal etwas schneller fahren könntest», bemerkte Karl.

Dietmar Füssel
 

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