
Während die deutsche Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger nur von möglichen Massnahmen schwadroniert, macht der Schweizer Innenminister Alain Berset Nägel mit Köpfen:
Der geneigte Leser wird sich vielleicht wundern, weshalb die u?blicherweiseeinem äusserst erlesenen Zirkel vorbehaltene Rubrik «Tor des Monats» diesmal dem Stadtpräsidenten einer beschaulichen, mittellosen Voralpenstadt ihre Spalten widmet. Der Grund heisst: 70 Prozent. Diese Zahl steht nicht nur, wie uns aus den Gassen selbiger Stadt zugetragen wurde, fu?r die Präsenzzeit, die Alexander Tschäppät in seinem Vollamt als oberster Berner maximal erreicht - nein, der Wert steht vor allem fu?r eine in westlichen Demokratien schwindelerregendhohe Zustimmungsrate. Am 25. November wurde der sechzigjährige Sozialdemokrat Tschäppät von 70 Prozent der Bu?rger in eine dritte Amtsperiode gewählt.
Wer ähnlich hohe Wahlsiege erleben will, muss normalerweise als OECD-Beobachter nach Weissrussland oder Kuba reisen. In unseren Breitengraden - das wollen uns zumindest die Politologen stets weismachen - gelten demgegenu?ber tiefe Stimmbeteiligung, Zufallsmehrheiten und Denkzettelplebiszite geradezu als Zeichen einer gereiften Demokratie. Deshalb stellt sich die berechtigte Frage: Was läuft in Bern eigentlich schief?
«Alles!», schreibt es uns schon seit Jahren aus dem von Zu?rcher Medienhäusern dominierten Blätterwald entgegen. Das jährliche Bern-Bashing ist beim oder derein fix vorgedruckter Termin im Redaktionskalender. Der sprichwörtliche Funke Wahrheit in jeder Sache glimmt in diesem Fall jedoch tatsächlich mit der Leuchtkraft eines Stadionscheinwerfers. Fakt ist: Die fru?here stolze Republik, einst im Ancien Regime grösster Stadtstaat nördlich der Alpen, ist heute ein strukturschwacher, innovationsarmer Kanton, der am Tropf des Finanzausgleichs hängt und dessen Hauptstadt nur durch den Zufall eines typisch(n) eidgenössischen Kompromisses zur Bundesstadt erkoren wurde. Während auf den Wiesen vor den Toren der Stadt noch weitgehend SVPZottel und dessen BDP-Klone meckern, ging die Stadt längst schon an Rot-Gru?n verloren. Womit wir nun aber nicht mehr bei den Besonderheiten Berns, sondern bei einem helvetischen Regelfall wären.
Demokratietheoretischer Exkurs, völlig satirefrei: Wer sich manchmal auch wundert,warum sich «bu?rgerlich» von Bu?rgertum ableitet, welches einst in den Städten entstand, und warum man heute tendenziell in den Städten rot-gru?n und auf dem Land bu?rgerlich ist, stelle sich mal vor, wie die politischen Verhältnisse aussähen, wenn jeder die Hälfte seiner politischen Stimme nicht am Wohnort, sondern am Erwerbsort - notabene dort, wo er oft mehr Zeit verbringt als zu Hause - in die Urne legen könnte. Suchen Sie jetzt nicht, wir haben diesen Punkt leider auch in keinem Parteiprogramm gefunden.)
Wir sind noch immer auf der Suche nach einer Erklärung fu?r die 70 Prozent. Bern ist rotgru?n, Zu?rich auch. Bern hat Tschäppät, Zu?rich Mauch. Von Tschäppät heisst es, er suche stets den Kontakt zu «seinem Volk», habe in den letzten Jahren keine Hundsverlochete und kein Fettnäpfchen («Blocher Motherfucker») ausgelassen. Und wird trotzdem gemocht. Von Mauch hiess es lange: «Zeige jemandem ein Farbfoto von ihr, und die Person wird sich Sekunden später nur noch an ein Schwarz-Weiss-Bild erinnern.»
70 Prozent Wähleranteil, weit u?ber die eigene Partei hinaus. Liegt es an Bern? Nein, die Stadt ist so behäbig oder bewegt wie manche andere. Liegt es an Tschäppät? Jein. Es liegt daran, dass, wo eine Personenwahl auf eine starke, schillernde Persönlichkeit trifft, politische Aspekte nahezu völlig in den Hintergrund treten können. Nicht, dass das in diesem Fall gefährlich oder schlecht wäre. Den demokratietheoretischen Exkurs zur «Volkswahl des Bundesrats» können wir uns aber wohl trotzdem sparen.