
Sind Sie noch dran? Frau Kuratli musste schmunzeln. Die Frage passte eigentlich gar nicht schlecht, schliesslich kannte die nette Frau am andern Ende der Leitung ja ihre Adresse: Seniorenzentrum.
Aber sie wusste natürlich auch, dass das nicht ernst gemeint war, sondern nur die klassisch schweizerische Rückfrage am Telefon. Nachdem Frau Kuratli also versichert hatte, dass sie noch dran war, besprach sie mit der netten Frau die Schiffsreise, die sie buchen wollte, Abfahrt 12. Dezember. Frau Kuratli lächelte vergnügt. Darauf freute sie sich am allermeisten. Wenn sie am 12. Dezember abfuhr, war sie an Weihnachten auf hoher See, unerreichbar für alle. Keine öden Besprechungen mehr, wer wen abholt und wer wem was schenkt, wer was kocht oder nicht bäckt. Nichts. Dieses Vorgeplänkel fand sie so ermüdend, denn es war ja immer schon alles im Voraus klar, weil alles ja immer genau gleich ablief. Marcel würde anrufen und sich zuerst, wie es sich gehörte, nach ihrem Befinden erkundigen.
Frau Kuratli hatte längst gemerkt, dass es nicht darauf ankam, was sie antwortete. Er würde baldmöglichst das Thema wechseln und auf Weihnachten zu sprechen kommen, um ihr fröhlich zu erklären, wie sich doch alle wieder freuten, bis sie endlich wieder einmal mit dem Tantchen im trauten Kreise zusammensitzen könnten und Zeit füreinander hätten. Von wegen Zeit! Die freuten sich doch, wie immer, auf ihren Cheque, und sonst nichts. Nun, sie spielte mit, erwiderte wie immer, dass es ihr gut gehe, sie sich ebenfalls freue und nur noch kurz in der Agenda nachsehen wolle, ob ihr das vorgeschlagene Datum passe. Es passte natürlich immer und dann erklärte Marcel, dieses Jahr sei die Familienweihnachtsfeier bei Susi und es gebe Fondue Chinoise. Das wie immer liess er weg.
Und nun würde Weihnachten also ohne sie stattfinden. Nachdem sie sich das schon so viele Jahre geschworen hatte, würde es dieses Jahr endlich gelingen. Die Weihnachtsfeier im Seniorenzentrum war noch gewesen. Aber die hatte, wie immer, niemand bemerkt, denn sie fand immer mitten im Nachmittag und November statt, damit das Personal dann, an Weihnachten selber, nur im kleinen Team im Seniorenzentrum bleiben musste. Und die Ihren hatten auch wie immer alle möglichen Entschuldigungen, weshalb sie nicht kommen konnten und vertrösteten sie dann immer auf die «richtige» Feier im Dezember, wenn alle Zeit hätten und gemütlich wieder mit dem Tantchen dasitzen und reden konnten.
Von wegen gemütlich und reden. Bei Susi konnte es nicht gemütlich werden. Da waren ihre ausladenden Dekorationen und ihr Sauberkeitswahn davor. Und spätestens mit der flächendeckenden Verbreitung elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten war das Reden an den Familientreffen vorbei. Niemand konnte mehr etwas Zusammenhängendes erzählen, weil es ständig lautmalerische Unterbrechungen durch diese Kästchen gab. Was aber fast noch schlimmer war, Frau Kuratli hatte stets den Verdacht, dass diese Unterbrechungen willkommen waren.
Schliesslich war also die Reiseroute erklärt, Frau Kuratli einverstanden, und es wurde gebucht. Frohgemut hängte sie auf und machte sich daran, den Ihren einen Weihnachtsbrief zu schreiben, der wurde das Tüpfelchen aufs I. Genussvoll dachte sie daran, wie die Ihren an Weihnachten dann wie immer bei Susi sitzen würden, wie immer warmen Prosecco tranken, aus grausigen, farbigen Gläsern und anschliessend das unvermeidliche Fondue Chinoise assen. Aber nun würde es nicht wie immer sein, sondern ohne Tantchen, nur mit ihrem Brief. Der würde dann endlich einmal richtig Stimmung machen, zu reden geben und bestimmt würden alle für ein Mal zuhören und ihre Handys abschalten. So machte sie es sich an ihrem Schreibtisch gemütlich und begann den Brief:
Meine Lieben,
euer Tantchen ist nun eben nicht, wie immer, bei euch, sondern auf hoher See, auf dem Weg zu ihrem alten Schulkameraden Heinz. Er ist vor vielen Jahren nach Kanada ausgewandert, aber unser Kontakt ist nie abgebrochen. Nun hat er mich eingeladen, ihn zu besuchen, das heisst, er lud mich ein, bei ihm zu bleiben, so lange, wie ich möchte. Nun, ihr wisst, mein neues Zuhause, das Seniorenzentrum, mag ich nicht. Ich weiss, ich weiss, ihr wolltet nur das Beste für mich, aber eben ihr. Ich fühle mich dort nicht wohl, und so habe ich mich entschlossen, es zu versuchen. Eigentlich muss ich euch dankbar sein dafür, denn wenn ich nicht im Seniorenzentrum gelandet wäre, wer weiss, ob ich die Kraft gehabt hätte, nochmals zu reisen. Zur Sicherheit habe ich bereits alles geregelt, denn ich erwarte und hoffe, dass es mir bei Heinz gefällt. Mein gesamter Nachlass, samt den beiden Liegenschaften, geht an die Stiftung «fröhliche Weidentiere». Ihr wisst, wie sehr mir Tiere am Herzen liegen. Nun wird es gleich bei euch klingeln und der erste «Weidenbraten» wird gebracht. Mein kleines Geschenk. In den nächsten zwanzig Jahren wird euch nun pünktlich zu Weihnachten ein Braten geliefert, ihr mögt es doch - immer gleich.
Fröhliche Weihnachten!