Von der Zeit, dem Interkulturellen und der Fotografie

Hans Durrer | veröffentlicht am 03.12.2015

Der grösste Terrorist ist die Zeit, sagte mir vor einigen Jahren mein Zahnarzt, der mit über neunzig Jahren noch immer praktizierte, weil ihm die Zahnheilkunde Berufung war. Er wirkte leicht gequält, als er das sagte.

Von der Zeit, dem Interkulturellen und der Fotografie
Andy Harper | (Nebelspalter)

Keine Frage, die Zeit hat uns im Griff. Nicht nur diejenigen unter uns, die ständig von Termin zu Termin hetzen, sondern auch die, die meinen, zu viel davon zu haben, weil sie gar nicht wissen, was sie mit all der freien Zeit machen sollen. Bis die dann allmählich ausläuft und sich quasi über Nacht das Gefühl einstellt, das sei jetzt alles doch viel zu schnell gegangen.

Die Zeit, wir wissen es, ist relativ. Wie sagte doch Einstein: «Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heissen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.»

Genfrei

Rund um den Globus wird Zeit ganz unterschiedlich verstanden. In meiner Vorstellung haben Menschen, die in wärmeren Gegenden wohnen, keinen blassen Schimmer, was Zeit ist. Schweizer Zeit, meine ich. Die Sonne hat ihnen wohl das entsprechende Gen aus dem Hirn gebrannt. Hat es im Hirn überhaupt Gene. Egal. Sie wissen, was ich meine.

Umso überraschter war ich dann, als ich eines schönen Tages im brasilianischen Santa Cruz do Sul, wo ich unterrichtete, die Schultür um drei Minuten nach zwölf verschlossen fand. Zugegeben, ich wusste, dass die Schule offiziell von zwölf bis eins geschlossen war, doch nahm ich automatisch an, dass die brasilianische Idee von Pünktlichkeit und meine nicht kompatibel sein würden. Ich fragte Ricardo, den Schulleiter und immer eine gute Quelle, wenn ich Brasilianisches erklärt haben wollte, der meinte: Brasilianer mögen nicht pünktlich zum Schulbeginn erscheinen, doch den Schulschluss, den halten sie immer ganz genau ein.

Höchst eigenwillige Vorstellungen von Zeit haben auch die Thailänder, für die, so die aus Hawaii stammende Carol Hollinger, die einige Jahre in Bangkok verbracht hat, sei die Zeit ein grosser, mysteriöser Ozean, in welchem höchst aufregende Dinge vorbeischwimmen und ihnen irgendwie zustossen.

Und Tracy Novinger, ursprünglich aus Aruba, doch schon lange in Texas, weiss von einem Mexikaner zu berichten, der einem Araber die Bedeutung von mañana zu erklären versucht. Der Araber nickt zustimmend: Das sei ganz ähnlich dem arabischen bukara, doch bukara fehle das Dringliche.

Meine Lieblingsgeschichte ereignete sich im Norden von Sambia, wo ich einem Begehren nach finanzieller Unterstützung nachzugehen hatte und mich irgendwo in der Pampa wiederfand, in einem Büro mit einem alten Holztisch, einem dreibeinigen Stuhl und einer überaus freundlichen jungen Frau, der Assistentin des Gesuchstellers, die mir auf meine Frage, wann ihr Chef eintreffen könnte, kurz und klar beschied: Any time from now.

Hirngespinst

Dass die Zeit nicht wirklich existiert, ausser in unseren Köpfen, das wissen wir. Sie ist eines dieser Hilfsmittel, das uns hilft, unser Dasein inmitten der Milchstrasse zu organisieren. Und wie vieles andere, das wir benutzen, um uns auf unserem Planeten nicht völlig verloren vorzukommen, ist auch die Zeit von einigen erfindungsreichen Bürgern in ein lukratives Geschäft umgewandelt worden. Man denke etwa an die Uhrenhersteller.

Weniger praktisch Veranlagte suchen manchmal Trost in der Philosophie. Panta rhei, alles fliesst, hat bekanntlich Heraklit gesagt. Die Buddhisten meinen dasselbe, sagen es jedoch anders: Das einzig Beständige ist der Wandel.

Wenn also alles steig im Fluss ist, kann es also weder Anfang noch Ende geben. Und somit auch keine Zeit. Doch dann kommen die Fotokritiker und behaupten, die Fotografie bringe die Zeit zum Stillstand. Und sie zeigen auf Bilder in einem Rahmen, obwohl es solche Bilder so recht eigentlich gar nicht geben kann, denn kein Bild, das einem durch den Kopf geht, hat einen Rahmen oder lässt sich anhalten, jedes taucht ganz unvermittelt auf und wird sofort und ganz ohne erkennbaren Übergang vom nächsten abgelöst.

Ohne Bezugspunkte sei alles bedeutungslos, argumentierte die amerikanische Autorin Sharon Cameron einmal und fügte hinzu: «Doch ich wünschte, du würdest verstehen, dass du ohne Bezugspunkte im Realen bist.» Einer dieser Bezugspunkte ist die Zeit. Im Realen gibt es sie jedoch nicht. Das Magische an der Fotografie ist, dass sie uns etwas zu sehen erlaubt, die Zeit, von der wir wissen, dass es sie nicht gibt.

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