Das Loch

Dietmar Füssel | veröffentlicht am 30.06.2016

Es ging um den Olympiasieg über hundert Meter Freistil, als der Startschuss ertönte und die acht Finalisten sich kopfüber stürzten ins kühle Nass...

Das Loch
Jiri Sliva | (Nebelspalter)

Für jeden, der sich auch nur ein klein wenig für den Schwimmsport interessierte, war klar, dass der Sieger dieses Rennens nur Bill Brandy heissen konnte, der seit mehr als drei Jahren über diese Distanz kein einziges Rennen mehr verloren hatte, zweimal Weltmeister geworden war sowie aus­serdem selbstverständlich auch den Weltrekord hielt. Erwartungsgemäss ging Bill Brandy tatsächlich schon vom Start weg in Führung, und als er sich dem Beckenende näherte, lag er schon um mehr als eine Körperlänge vor seinem schärfsten Konkurrenten, dem Australier Ken Cole.

Brandy wendete, stiess sich kraftvoll ab und hatte dabei das merkwürdige Gefühl, dass die Wand dem Druck seiner Füsse nicht standgehalten hatte. Irritiert blickte er zurück, was er sich angesichts seines Vorsprungs problemlos erlauben konnte, und stellte verblüfft fest, dass sich dort, wo er sich abgestossen hatte, nun tatsächlich ein grosses Loch in der Beckenwand befand. «Ich werde verrückt. Das gibt es doch gar nicht», dachte er - natürlich nicht auf Deutsch, sondern in amerikanischem Englisch - doch dann beschloss er, zunächst einmal dieses wichtige Rennen zu beenden und sich erst hinterher wieder Gedanken über diesen mysteriösen Vorfall zu machen.

Dadurch, dass er während des Zurückblickens deutlich an Geschwindigkeit verloren hatte, befand Ken Cole sich plötzlich fast auf gleicher Höhe mit ihm. Allerdings zweifelte er nicht daran, ihn schon bald wieder distanzieren zu können, doch obwohl er die Frequenz seiner Armbewegungen deutlich erhöhte, wurde er nicht nur von Cole, sondern auch von allen anderen Konkurrenten scheinbar mühelos überholt. «Das ist doch nicht möglich, dass die alle plötzlich viel schneller sind als ich», dachte Bill Brandy irritiert.

Es dauerte mehrere Sekunden, ehe er begriff, woran es wirklich lag, dass alle seine Gegner an ihm vorbeigezogen waren: Der Grund dafür war natürlich nicht, dass sie so schnell waren, sondern vielmehr der, dass das Loch in der Beckenwand eine unwiderstehliche, immer stärker werdende Sogwirkung auf ihn ausübte. Verzweifelt kämpfte Brandy dagegen an, doch es war zwecklos, der Sog war stärker. Näher und immer näher zog das Loch ihn an sich heran, und dann, als er nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war, öffnete es sich plötzlich noch viel weiter, so wie das Maul eines riesigen Tieres, verschlang Brandy und schloss sich wieder.

Neuer Olympiasieger über hundert Meter Freistil wurde nach dem spurlosen Verschwinden des Favoriten Ken Cole (Australien) vor Lajos Boros (Ungarn) und Ding Ying (China). Das Finale über zweihundert Meter Brust endete gleichfalls mit einem Aussenseitersieg, weil der hoch favorisierte Italiener Rocky Rocki, der eigentlich auf der gleichen Bahn hätte schwimmen sollen wie kurz zuvor Bill Brandy, ohne Angabe von Gründen auf einen Start verzichtet hatte.

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