Das Meinungsbürgertum

Simon Enzler | veröffentlicht am 01.06.2017

Zusammengefasst kann man sagen: Nur weil sich jemand eine Meinung bilden kann, heisst es noch lange nicht, dass er sie auch äussern muss.

Das Meinungsbürgertum
(Nebelspalter)

Und das hat nichts mit Unterdrückung oder Zensur zu tun, sondern lediglich mit guten Manieren. Mit der Meinung ist es genauso wie mit der Flatulenz. Die muss auch nicht zwingend jeder mitbekommen. Man kann sie sich auch so lange verkneifen, bis man für sich alleine in der Ecke steht, mitten auf einem menschenleeren Platz oder auch im Auto, kommt auf das Gleiche hinaus. Auf alle Fälle muss das, was einen selber in einen heimeligen Stallgeruch hüllt, nicht unbedingt mehrheitsfähig sein.

Apropos Auto: Das Auto ist wohl einer der besten und fairsten Orte, um eigene Meinungen kundzutun. Denn die meisten sitzen sowieso alleine in ihrem mobilen Mikrokosmos. Und da gehörten sie eigentlich hin, die Meinungen, in überschaubare Sphären.

Ja wenn man zum Beispiel so einen Audi-Fahrer betrachtet, wie er mit Zornesröte und fletschendem Kauorgan einen unmissverständlich darauf hinweist, die Spur freizumachen, dann kann man froh sein, dass die wenigsten Autos über einen Internetzugang verfügen. Sonst würde sich das emotionale Defizit jenes Verkehrsteilnehmers in Form eines Livestreams oder eines Onlinekommentars in die Öffentlichkeit ergiessen.

So aggressiv und ungehobelt, wie heutzutage solche digitalen Meinungsschleudern oder, um es sachlich auszudrücken, Drecksschleudern daherkommen, müssen es Audi-Fahrer sein. Gut vielleicht auch Besitzer beispielsweise von... Schneeschleudern, die haben meistens eine ähnlich tiefe Frustrationstoleranz. Da ist es also von Vorteil, dass so eine Schneeschleuder jede noch so laut gebrüllte Meinung akustisch locker wegräumt. Und der Audi als leuchtendes Beispiel von «Vorsprung durch Technik» hat vom Schallschutz her dermassen gute Werte, dass eine im Innenraum geäusserte Meinung quasi im Dämmmaterial der Innenverkleidung verpufft. So ein höchst enervierter Meinungsbürger, wenn er einen schliesslich überholt, sieht aus und vor allem klingt wie ein Goldfisch auf Speed. Was für eine herrliche Ruhe, wenn ein anderer eine Meinung hat und man sie selber nicht hören muss.

Man kann sich kaum noch daran erinnern an die Ruhe und Gemütlichkeit einer Zeitungslektüre. Wenn ein Artikel gelesen war, legte man ihn weg, oder man stopfte damit vielleicht noch die nassen Stiefel. Mehr war das aber nicht. Heute fühlen sich Hunderte besser Wissende verpflichtet, dem Journalisten sowie der Welt mitzuteilen, dass alles nur gelogen, durch Steuern finanziert und irgendwie manipuliert sei.

Wir leben heute in einer Jekame-Gesellschaft - jeder kann meinen, und deshalb tut er es auch. In einem Onlinekommentar zu einem Artikel über Xavier Naidoos neuesten Wurf war zu lesen, respektive wurde einem die Meinung kundgetan, dass nur weil der Künstler sage, was die meisten meinen, dies noch lange nicht rechtspopulistisch sei.

Nein natürlich nicht! Auch dann nicht, wenn die meisten tatsächlich rechts sind und andere Argumente pauschal als linke Propaganda abtun. Linke Meinungen sind übrigens keinen Deut besser. Sie sind nur eloquenter formuliert.

Die Meinung, aus einer Stimmung heraus geboren, ist die Feindin des Wissens. Für Wissen muss man arbeiten, um sich eine Meinung zu bilden, reicht Faulheit. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal in einer Diskussion das Wort ergreifen! Fragen Sie nicht, was denn die Meinung des anderen zu diesem oder jenem Thema sei, sondern seien Sie so frei und sagen: «Mich interessiert, was du darüber weisst.» Und dann können Sie endlich wieder jene herrliche Ruhe geniessen, welche Sie von früher her, vor all den Kommentarspalten und Hashtags, kennen.

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