Viva la revolución

Ralph Weibel | veröffentlicht am 02.03.2018

«Wir sollten wieder die Hellebarden aus dem Keller holen und zur Uni St. Gallen hochmarschieren!», sage ich. «Genau, diese Brutstätte des Kapitalismus gehört ausgeräuchert!», sagt Mirco. «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!», zitiert Regula und «Schwerter zu Pflugscharen!», ruft Christof.

Viva la revolución
Lanta (Roland Lichtensteiger) | (Nebelspalter)

So oder ähnlich ging es früher bei uns in der WG-Küche zu und her. Im Hintergrund sang John Lennon: «Give Peace a Chance». Wir sassen zusammen, umhüllt von dicken Rauchschwaden, tranken billigen Rotwein und kifften dazu. Irgendwie hatten wir den festen Glauben, die Welt liesse sich so verändern. Nächtelang schmiedeten wir Pläne. Gerecht sollte sie werden, unsere Welt. Niemand sollte mehr Hunger leiden. Keine Kriege sollte es mehr geben und keine Unterdrückung.
Dafür waren wir bereit, alles herzugeben, was wir hatten. – War eh kein Problem, da wir ohnehin nichts hatten. – Und so tranken wir und kifften und tranken und kifften und dazu wurde geredet und geredet.

Wir nannten es natürlich nicht einfach nur reden. Oh nein, wir philosophierten. Gott, was haben wir philosophiert! So wie unsere Alten wollten wir nie werden. Diese Spiessbürger mit Lebensplänen und Pensionskassen, die sich dem kapitalistischen System unterwarfen und deren Freiheit in Campingferien am Gardasee bestand. So nicht! So wie Che Guevara wollten wir sein, mit langen Haaren für eine gerechte Sache kämpfen und auch sterben. «Viva la Revolución!» Wobei, das mit dem Sterben ging uns dann zu weit. Da tranken wir lieber noch einen Schluck Wein, drehten einen neuen Joint und entwickelten Ideen, wie wir aus der Welt eine bessere machen könnten.

Ich wollte alle Mercedes-Sterne von Kühlerhauben reissen, Mirco Farbbeutel an die Fassaden der Banken und Gerichte werfen und Regula plante Stinkbombenangriffe auf das Rathaus und Sprayattacken auf Pelzmäntel. Worin wir Ungerechtigkeit vermuteten, wollten wir in grossen Lettern «Solidarität» und «Viva la Revolución» daraufschreiben. Bei McDonald’s wollten wir die Scheiben mit Pflastersteinen einschmeissen. Christof forderte immer ein autonomes Jugendzentrum. Das forderten wir anderen auch, nachdem uns Christof erklärt hatte, was autonom bedeutet. Unser aller Nachname sollte Anarchie sein.

Wir entwickelten so lange kreative Ideen, um das bourgeoise Pack zu stürzen, bis wir vollgekifft und mit einem Liter Rotwein im Bauch in einen tiefen Schlaf sanken. Die Revolution verschoben wir auf den nächsten Tag. Als wir am Mittag langsam wieder zu uns kamen, war uns die Lust auf Revolution und Anarchie jeweils vergangen. Vielmehr stand uns der Sinn nach Alka-Seltzer. Völlig verkatert brachten wir natürlich überhaupt nichts auf die Reihe von dem, was wir uns vorgenommen
hatten. Wir schmissen weder Pflastersteine, noch sprayten wir irgendetwas. Im Gegenteil. Wir besuchten brav unsere Lehre, studierten und machten unsere Abschlüsse. Mirco wurde Lehrer, Regula Logopädin, Christof leitender Angestellter in einem grossen Konzern und ich technischer Zeichner. Mit jedem Jahr wurden wir unseren Eltern ähnlicher. Wir schmiedeten Lebenspläne und zahlten in unsere Pensionskassen ein. Unsere Ferien verbrachten wir am Gardasee, und Camping bedeutete die grosse Freiheit.


Nur manchmal – ja, manchmal – da beschleicht mich ein komisches Gefühl, wenn meine Kinder sagen, ich sei spiessig geworden. Denke ich zurück an die Nächte in dieser WG-Küche voller Rauch, den billigen Rotwein, Joint und John Lennon. In mir steigen diese Gefühle von Anarchie und Revolution hoch und ich will sie nicht wieder verschlafen. Nicht wieder nur aus Zeitung und dem Fernseher vom Kampf gegen das Böse erfahren oder zufrieden sein mit mir und meinem Protest, wenn ich in den asozialen Medien mit einem Like gegen die Inhaftierung von Journalisten in der Türkei oder, nach einem weiteren Massacker an einer Schule, gegen die amerikanische Waffenlobby vom Laptop aus demonstriere. Fast zerreisst es mich innerlich, und diese Gefühle, diese Energie, sie müssen raus. Wenn ich an diesem Punkt bin, nehme ich allen Mut zusammen und gehe nach draussen. Dort erhebe ich meine Faust, überquere unter den Augen von ein paar Müttern mit
kleinen Kindern eine Strasse bei Rotlicht und sage leise vor mich hin: «Viva la Revolución!»

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