Schuld sind die da oben

Dieter Höss | veröffentlicht am 05.07.2018

Ganz früher, als der kleine Mann noch Untertan irgendeiner fast gottgleichen Obrigkeit war, schimpfte er auf «die da oben». Wenn schon nicht auf offenem Markt, so doch privat, am Stammtisch oder wo sich die kleinen Leute ebenso trafen, um ihr Herz auszuschütten.

Schuld sind die da oben
Sobe (Peter Zimmer) | (Nebelspalter)

«Die da oben» waren schon immer schuld an allem Unglück, welches der Menschheit widerfuhr. Und diese bestand grösstenteils aus dem kleinen Mann und der kleinen Frau.  Selbst für Verhängnisse, für die sie nun wirklich nichts konnten – wie beispielsweise Frost und Dürre, Hochwasser und Hagelschlag, Cholera und Pest – wurde ihnen der Schwarze Peter zugeschoben.

Inzwischen gibt es längst keine Untertanen mehr, sondern lauter mündige Bürgerinnen und Bürger. Das Wetter ist dadurch nicht besser geworden. Und noch immer herrscht kein Mangel an Unglück, Unbill und Ungerechtigkeit. Da aber der mündige Bürger schlecht auf «die da oben» schimpfen kann, schimpft er jetzt, sozusagen auf gleicher Ebene, von Wähler zu Gewähltem, eben auf «die in Bern» oder «die in Berlin» oder «die in Brüssel» und so fort. Der Einfachheit halber kann er auch auf den – zumindest in dessen eigenen Augen – gottgleichen Trump schimpfen. Am Prinzip ändert sich nichts. Der Schwarze Peter ist derselbe geblieben, nur dass ihn jetzt eben die Regierung in Bern hat oder in Berlin und so weiter.

Das heisst, sie hätten ihn, wenn es nicht zum Glück für sie inzwischen wieder eine höhere Instanz gäbe, an die sich der Schwarze Peter mühelos weitergeben lässt. Wenn deshalb Unmut über sie laut wird, verhüllen sie nicht etwa ihre Häupter in Scham und Reue, sondern weisen die Schuld an allem Unglück, an aller Unbill und an aller Ungerechtigkeit weit von sich, geben sie geschickt weiter an «den Grossen Bruder in Washington». Und wenn schon nicht bei grossen politischen Debatten, wo man sich ganz diplomatisch gibt, so doch in Interviews, in Pressebeiträgen, in Talkshows, in Sonntagsreden oder wo die Politiker sich halt schon einmal Luft machen, um anschliessend bei ihren Wählern gut dazustehen oder jedenfalls unbehelligt davonzukommen.

Da selbst unter allermündigsten Bürgern kaum jemand so recht weiss, was sich gegen jenen Oberhäuptling im fernen Washington ausrichten liesse, ist der Schwarze Peter dort bis auf Weiteres auch bestens aufgehoben. «Die in Bern» und Umgebung sind angesichts ihrer eigenen Ohnmacht jedenfalls aus dem Schneider. Tja, und der kleine Mann sitzt da wie zuvor, als er noch kein mündiger Bürger war, sondern einfach Untertan und von vornherein wusste, wer an allem Unglück, aller Unbill und aller Ungerechtigkeit immer schuld war und immer schuld bleiben wird: eben doch «die da oben».

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