Schluss mit der anthropogenen Alpenfaltung!

Marco Ratschiller | veröffentlicht am 31.08.2018

Unsere Berge wachsen jedes Jahr weiter. Angesichts der steigenden Meeresspiegel eine gute Nachricht. Höchste Zeit, über den Hochnebel zu steigen und sich das Ganze mal wieder anzusehen.

Schluss mit der anthropogenen Alpenfaltung!
Swen (Silvan Wegmann) | (Nebelspalter)

Die Schweiz definiert sich über die eigene Bergwelt. Ihre Bewohner ebenso. Zwar lebt der allergrösste Teil der Heltvetier im flachen Mitteland. So nennt sich der Agglomerationsbrei aus Einfamilienhäusern, Gewerbezonen und Verkehrskreiseln, der an schönen Herbsttagen unter einer Hochnebeldecke verschwindet. Selbst im Mittelland steht in jedem zweiten Dorfkern ein in die Jahrzehnte gekommener «Rigiblick», eine «Alpenrose» oder ein «Moléson», wo die Aussicht jedoch auch bei Sonnenschein nur noch bis zum 70er-Jahre-­Schandbau der Kantonalbank gegenüber reicht. Egal, denn im Innern sind Sennenrösti und Bergkäse ebenfalls längst dem hintergrundbeleuchteten Fotozyklus Kebab-Dürüm-Börek gewichen.

Umso intensiver kompensieren Schweizer ihre Alpenliebe während der Freizeit. Sie fahren bevorzugt Geländewagen, mit welchen man locker den Aletschgletscher (war bei Redaktionsschluss noch da) überqueren kann. Sie erklimmen am Wochenende so zahl- und variantenreich die Berge, dass Bundesbern nebst breiteren Strassen bald auch richtungsgetrennte Wanderwege und gesonderte Schutzzonen für die wachsenden Mountainbiker- und Gleitschirmflieger-Populationen einrichten muss.

Kaum zu glauben, dass uns die Obsession für Höhenluft im 19. Jahrhundert von den Engländern beigebracht werden musste. Bis dahin galt das Hochgebirge als be-
drohlich und lebensfeindlich. Noch im 20. Jahrhundert versuchten ganze Talschaften, den Anblick der tristen Bergwelt mit monumentalen Mauerbauten zu kaschieren. Bis heute ist man z.?B. am Grimsel damit beschäftigt, die Wassermassen, die sich unerwartet hinter den Mauern aufgestaut hatten, kontrolliert abzulassen und mit Stromverkäufen wenigstens einen Teil der Baukosten einzuspielen.

So verbreitet der Glaube ist, es sei die Bergwelt, die der Schweiz eine besondere Anziehungskraft verleiht, so falsch ist diese Idee – eine klassische Verwechslung von Ursache und Wirkung. Betrachtet man dieses Land durchs erdgeschichtliche Weitwinkelobjektiv, wird klar: Die Berge selbst sind Produkt einer örtlichen Anziehungskraft, die hier Landmassen aufeinander zusteuern und die Alpen sich auftürmen lässt.

Noch immer wachsen unsere Berggipfel um ein bis zwei Millimeter pro Jahr. Die Vermutung liegt nahe, dass es genau dieser Höhengewinn ist, der uns die Alpen instinktiv so attraktiv erscheinen lässt, macht er doch den Anstieg des Meeresspiegels wett und unser Land angesichts des Klimawandels zukunftssicher. Doch ein Problem bleibt: Wollen wir diese Zukunft geniessen, sollten wir das Tempo, mit dem wir momentan Gräben und Verwerfungen quer durch unsere Gesellschaft ziehen, auch auf ein bis zwei Millimeter pro Jahr drosseln.

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