
Vor den deutschsprachigen Slam-Meisterschaften im November in Zürich geben Schweizer Wortakrobaten eine Kostprobe ihres Schaffens im Nebelspalter. Allen voran der amtierende Schweizermeister Kilian Ziegler.
Bungee-Seil zu lang? – Leben zu kurz! – Atem zu kurz? – Marathon zu lang! – Studium zu lang? – Stipendium zu kurz! Ich weiss, wovon ich spreche, ich habe 22 Semester Soziologie studiert. (Für diejenigen, die nicht wissen sollten, was ein Soziologie-Studium ist, kann ich es ganz einfach erklären: Ein Soziologie-Studium ist wie ein Wirtschaftsstudium … einfach ohne Perspektiven.)
Zu kurz, zu lang, zu lang, zu kurz, es ist immer das Gleiche: Entweder ist etwas zu kurz oder zu lang, zu gross oder zu klein, zu dies oder zu das – von einem ins andere Extre-m. Immer muss heutzutage alles so extrem sein. Mittlerweile gibt es schon selbstfahrende Autos oder vegetarische Kannibalen (falls sich jemand fragen sollte, was vegetarische Kannibalen essen: zum Beispiel Fingerbeeren und Augäpfel, halt die gesunden Sachen). Diese Extrempositionen sind mir viel zu kompliziert, ich setze mich ein für das Einfache, das Unkomplizierte, ich plädiere für die goldene Mitte.
So bin ich sehr gerne mittelmässig. Schliesslich ist niemand perfekt – egal was der Mensch macht, es ist wie ein Kind mit zwei verschieden langen Beinen: Es geht schief. Warum also makellos sein wollen, wenn man normal, ja eben mittelmässig sein kann? Darum fordere ich alle dazu auf: Seien wir mittelmässig! Seien wir durch und durch durchschnittlich. Auf Englisch: Let’s be average. Vergesst den Mount Everest, der Mount Average reicht völlig! Ich bin der Inbegriff des Mittelmasses, wäre ich Italiener, ich hiesse Mittelmassimo. Wäre ich Franzose, hiesse ich Monsieur comme ci, comme ça und selbst mein schönstes «oh là là!» wäre auch bloss «so lala». Ich trage die Kleidergrösse XXM, bin ein glatter Viereinhalber, im Schwingen wäre ich ein «Gestellter». Ich bin so durchschnittlich, wenn Umfrageinstitute wenig Zeit haben, dann fragen sie einfach mich und nehmen meine Antwort als Hochrechnung.
So ein Mittelding ist typisch schweizerisch, zum Beispiel beim Sex: Wenn ein Durch-schnittsschweizer Sex hat, dann hat er am Schluss keinen Orgasmus, sondern einen Kompromiss. (Bei ihm gibts auch kein Vorspiel, sondern einen Apéro.)
Ich muss nicht in allem der Beste sein, ich brauche keine Zahnbürste von «Dr. Best» und ich kaufe nichts im Supermarkt. Supermärkte sind mir viel zu überheblich, ich mag normale Märkte, das märkte ich schon früh (ha, Wortspiel!). Nein, ich brauche auch kein Yoga, um die Mitte zu finden, die Mitte ist in mir.
Doch ich gebe zu, in stillen Momenten denke ich manchmal schon ernsthaft darüber nach, wie es wäre, mehr zu sein als blosser Durchschnitt. Wie es wäre, ein Mann zu sein, zu dem man ehrfürchtig hinaufschaut. Ein herausragender Zeitgenosse, ein potenzieller Nobelpreisträger, ein Streber, doch allseits beliebt. Politisch und sozial aktiv. Einer, der erfolgreich ist im Job und dennoch Beruf und Familie unter einen Hut bringt. Einer, der so sympathisch ist, dass ihm alle im Bus den Sitzplatz anbieten … sogar der Busfahrer. Einer, der, wenn er von einem Bären angegriffen wird, weder davonrennt, noch gegen den Bären kämpft, sondern ihn mit einem selbst komponierten, pädagogisch wertvollen Schlaflied so weit besänftigt, dass der Bär nicht mehr Menschen töten will, sondern sich freiwillig für Abendkurse an der Volkshochschule einschreibt. Schlicht ein krasser Tausendsassa, der alles kann, alles macht, alles weiss. Ein aufgeklärter, abgeklärter, zuhauf gelehrter Mann. Intelligent und attraktiv:
Ein Adonis Einstein!
Ein Sheldon Clooney!
Ein Cristiano Reich-Ranicki!
Aber nein, wenn ich darüber nachdenke, dann merke ich: So einer will ich nicht sein. Es stimmt, ich bin nicht perfekt. Aber ich bin weder dumm, noch ignorant, noch verrückt. Immerhin habe ich alle Tassen im Schrank. Gut, es sind hässliche Hello-Kitty-Tassen in einem billigen Ikea-Schrank, aber die Tassen in meinem Schrank sind vollzählig und weder ich noch der Schrank haben eine Schraube locker.
Fassen wir zusammen: Ich stehe mitten im Leben, ich bin mittelmässig und mittellässig, bin mittelwitzig, sehe mittelgut aus und bin mitteligent. Ich wohne im Mittelland und bin Mitte zwanzig … gewesen. Und wäre ich eine Sportart, dann wäre ich nicht Eishockey oder Landhockey, sondern Ganzokay.
Seien wir nicht herausragend, seien wir mittelmässig – ganz ohne schlechtes Gewissen. Und viel öfter sollte man sich doch einfach auf das Mittlere freuen und Sätze sagen wie: «Hey, bald ist Mittwoch-Mittag, darauf habe ich so lange hingearbeitet!»