Der Notfall

Sarah Altenaichinger | veröffentlicht am 05.10.2018

Sarah Altenaichinger aus Basel hat sich als erst 21-jährige Slammerin mühelos unter der gestandenen Konkurrenz etabliert. Sie steht für eine junge Generation von Wortakrobaten, die sich selber treu bleibt. Im kommenden November vertritt sie die Schweiz bei den deutschsprachigen Meisterschaften in Zürich.

Der Notfall
(Nebelspalter)

«Guten Tag. Ich bin von der Not-Ambulanz. Sie haben angerufen?»
«Nein, das muss ein Irrtum sein.»
«Uns erreichte vor einer Viertelstunde ein Telefonanruf. Apfelrosenweg 3. Frau Alten­aichinger?»
«Ja, das bin ich und das ist meine Adresse. Aber ich habe nicht angerufen. Mir geht
es gut.»
«Sind Sie sich sicher?
«Todsicher. Also ich meine, sehr.»
«Darf ich denn eintreten, wenn Sie erlauben?»
«Ja, schon, wenn es sein muss. Nur, es ist nichts. Wollen Sie nicht die Kontaktdaten noch einmal kontrollieren. Vielleicht braucht Sie einer meiner Nachbarn gerade dringender.»
«Es wäre von Vorteil, bei Ihnen eintreten zu können. Dann lässt sich alles Weitere klären.»
«Also gut, wie Sie meinen, voilà!»
«Schön haben Sie’s hier. Sehr schön, diese Vase.»
«Danke vielmals. War ein Geschenk meiner Tante.»
«Schönschönschön.»
«Ja.»
«Na dann, wollen wir beginnen?»
«Beginnen womit?»
«Na mit der Behandlung?»
«Aber, ich brauche keine Behandlung. Ich habe nichts!»
«Sie haben aber bei uns angerufen.»
«Das habe ich nicht!»
«Wieso bin ich dann hier?»
«Woher soll ich das wissen?»
«Ich habe es Ihnen gerade gesagt. Weil Sie angerufen haben.»
«Sie müssen mit mir nicht wie mit einem Kleinkind sprechen. Ich habe Sie verstanden. Nur, Sie mich offenbar nicht. Ich habe nicht angerufen!»
«Wie Sie meinen. Können wir jetzt beginnen? Bitte strecken Sie Ihren Arm aus.»
«Nein!»
«Beruhigen Sie sich. Setzen Sie sich hin und ...»
«Das werde ich nicht tun.»
«Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.»
«Ich will gar nicht, dass mir jemand hilft.»
«Und was soll ich stattdessen tun?»
«Gar nichts. Sie sollen verschwinden.»
«Das ist nicht gerade höflich.»
«Das ist mir egal. Bitte gehen Sie jetzt.»
«Damit Sie uns dann nach fünf Minuten wieder anrufen und um Hilfe bitten?»
«Nein, damit ich Sie nicht mehr sehen muss.»
«Das werde ich nicht zulassen. Es geht immerhin um Ihre Gesundheit.»
«Meine Gesundheit geht Sie nichts an!»
«Bitte, beruhigen Sie sich. Es geht auch ganz schnell.»
«Was geht ganz schnell?»
«Die Behandlung. Ein paar Minuten.
Danach werden Sie sich wie neugeboren fühlen.»
«Hören Sie, wenn Sie nicht sofort Ihre Sachen zusammenpacken und meine Wohnung verlassen, rufe ich die Polizei!»
«Aber, die Polizei ist doch ebenfalls vor Ort. Zu Ihrer Sicherheit.»
«Was macht die Polizei hier?»
«Sie haben sie angerufen. Sie umstellen das Gebäude.»
«Ich habe was?»
«Wie gesagt, zu Ihrer Sicherheit. Kommen Sie, wir setzen uns hier hin, ja genau,
hier, Sie strecken Ihren Arm aus. Sie werden die Spritze gar nicht spüren, ich kenne mich aus.»
«Aber ...»
«So ist es gut. Und jetzt hier.»
«Ich verstehe das alles nicht.»
«Das müssen Sie auch gar nicht.»
«Was ist denn mit mir?»
«Nichts Schlimmes. Nur ein kleiner Denkfehler. Schnell behoben.»
«Denkfehler?»
«Man könnte es auch eine psychische Störung nennen.»
«Ich bin doch nicht verrückt!? Sie sind verrückt! Sie brechen in Wohnungen ein und spielen mit Spritzen rum ...»
«Verrückt, haha, vielleicht, das ist eine ziemlich treffende Bezeichnung. Sie leiden unter der Annahme von Freiheit. Das ist alles.»
«Freiheit?»
«Ja. Diese seltsame Neigung eines Organismus, davon überzeugt zu sein, dass die Welt ihm gehört und er tun und lassen kann, was er für richtig befindet.»
«Ist dem nicht so?»
«Nein, das ist eben das Missverständnis.»
«Ach so. Und was heisst das?»
«Keine Angst. Sollte es nicht noch einmal vorkommen, müssen Sie nicht mit schwereren Konsequenzen rechnen. Dieses Mal reicht ein Hausbesuch. Die Behandlung ist übrigens abgeschlossen. Sie werden es bald vergessen haben.»
«Vergessen? Ich will nicht
vergessen.»
«Die Freiheit, dies zu bestimmen, haben Sie nicht, tut mir leid.»
«Freiheit? Sagen Sie, was bedeutet das noch einmal?»
«Sehr schön. Ich verabschiede mich jetzt. Ihre Gesundheit steht an oberster Stelle. Sollte es weitere Komplikationen geben, rufen Sie uns einfach wieder an.»

Artikel erschienen in der Ausgabe

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