
Man kann sie als Aberglauben abtun, als grauslige Gutenachtgeschichten, die Schweizer Sagen um verwunschene Burgfräuleins und irrlichternde Geister. Doch die Erzählungen sind moderner als man glaubt.
Sennentuntschi übt Rache
Auf der Alm ist der Notstand nach Frauen gross. Die Sennen sorgen für Abhilfe, indem sie aus zerschlissenen Tüchern eine lebensgrosse Frauenfigur herstellen, ausgestopft mit Heu. Als die Männer es füttern, geschieht die unheimliche Verwandlung: Die Puppe erwacht zum Leben. Doch der Männertraum von der totalen Verfügbarkeit der Frau scheitert: Das Sennentuntschi lässt die Sennen für ihre Gotteslästerung blutig büssen.
Die Saga setzt sich heute fort:
In Bundesbern ist der Notstand nach Frauen gross. Eine Partei sorgt für Abhilfe, indem sie über die Jahre eine lebensgrosse Frauenfigur aufbaut, manche sagen: unnahbar. Als die Männer ihr Macht geben, geschieht die unheimliche Verwandlung: die Puppe wird zur Bundesrätin. Doch der Männertraum, dass diese Frau wie eine Marionette nach den Wünschen ihrer Partei tanzen würde, scheitert. In der Schweiz nehmen gleich mehrere Berggebiete die Alpenmär für sich in Anspruch. Doch die Ostschweiz hat den einzigen legitimen Anspruch! Viel zu lange ist den Ostkantonen der Platz im Sagenbuch verweigert worden.
Wassernixe lockt mit Gold
Früher konnte man von Kloten aus eine Reise nur in eine Richtung antreten: nach unten. Vor allem Jungen sollten sich vor der trügerischen Schönheit des «goldenen Tors» hüten. Die Bezeichnung wurde im Lauf der Zeit übernommen; in Kloten lautet ein Restaurant auf diesen Namen. In der Teichquelle zwischen Flughafengelände und militärischer Panzerpiste hütete seinerzeit ein Hirtenjunge eine Herde, wie in der Sammlung der «Zürcher Sagen» nachzulesen ist. Da wird das Wasser unruhig, eine Jungfrau steigt an die Oberfläche und lockt ihn mit einem goldenen Ring ins Wasser. Dort umschlingt sie das strampelnde Menschlein und zieht ihn in die Tiefe. Vor seinen Augen tut sich eine andere Welt auf: Hinter einem goldenen Tor liegt eine herrliche Stadt. Dann wird er von Wasserwirbeln heftig nach unten gesogen.
Die Saga setzt sich heute fort:
Auf der Suche nach Gold versuchen Billigfluglinien immer wieder, von Kloten aus Traumdestinationen anzufliegen. Doch sie fallen auf ein Trugbild vom schnellen Geld herein. In unruhigen Zeiten sinken sie schliesslich, beschwert von ihren eigenen Tiefstpreisen, auf Grund. Die genaue Stelle wird als Kraftort beschrieben. Doch ausgerechnet in Kloten verlässt viele Airlines die Kraft und sie trudeln hilflos hernieder.
Pilatus im Oberalp-See
Nach seinem Selbstmord begann die seltsame Odyssee der Leiche von Pontius Pilatus. Erst wurde sie im Tiber entsorgt, dann bei Lyon in die Rhone geworfen, schliesslich bei Lausanne in den Genfersee. Immer spielten die Gewässer verrückt. Um Pilatus endlich loszuwerden, versenkte man ihn in einem kleinen Bergsee in der Oberalp. Das Bergmassiv bei Luzern kam bald als «Pilatus» zu einem berüchtigten Ruf. Denn nun war der tote Richter vollends entfesselt. Der See gefror nie mehr, der ruhelose Geist sorgte für Unwetter, Lawinen, Felsstürze. Noch heute lautet die Redensart: «Trägt der Pilatus abends eine Kappe, fängt das Wetter an zu gnappe (schwanken)». Zeitgenossen glaubten gar, Drachen über den See fliegen zu sehen – heute ziert ein Drache das Logo der Pilatus-Bahnen.
Die Saga setzt sich heute fort:
Was man in einem See versenkt, taucht irgendwann wieder auf. Bis 1982 hat die Schweiz den Atommüll im Nordatlantik versenkt. Doch so schnell wird man die Geister, die man rief, nicht los. Auch Industrie und Gewerbe haben Leichen im Keller, respektive Altlasten in der Erde. Ein Kataster der belasteten Standorte erfasst alte Mülldeponien, frühere Fabrikstandorte und Schiessanlagen. Es klingt wie ein Märchen, mit dem Schlusssatz «… und wenn sie nicht entsorgt worden sind, strahlen sie noch heute.»
Geküsster Eisblock
Oberhalb Tegerfelden finden sich die Ruinen einer Burg. Hier soll ein verwunschenes Burgfräulein mehrmals erschienen sein, festgehalten 1856 in den «Schweizersagen aus dem Aargau». Sie gab jungen Männern zu verstehen, dass ein Fluch auf ihr laste, weil sie sich unglücklich verliebt das Leben nahm. Doch niemand in Tegerfelden erfüllte ihr den Wunsch eines erlösenden Kusses, weil sie kalt wie ein Eisblock war. Mehrere der Männer, die ihr den Dienst versagten, starben auf eigentümliche Weise.
Die Saga setzt sich heute fort:
Im Fernsehen läuft als Dauerwiederholung «Die Bachelorette», die von allen guten Geistern verlassen ist. Die verwunschenen Fräuleins, deren Jungfräulichkeit nicht genau festgestellt werden kann, halten junge Männer als Pfand fest. Wer sich mit ihr einlässt, wird vom Fluch der Boulevard-Medien erfasst: Darin müssen die Kandidaten so lange erscheinen, bis man sie nicht mehr sehen kann. Manche, die die Bachelorette küssten, berichteten, es handle sich um eine eiskalt berechnende Frau.