Die Polkappen schmelzen

Ralph Weibel | veröffentlicht am 05.04.2019

Mit ihrer Streikerei erreichen die Jungen genau das, was sie eigentlich nicht wollen: Im Wahljahr überhitzt der Demo-kratie-Motor und die Polkappen schmelzen rasant ab. Poli­tiker werden zu Junkies, Wahlbetrügern, Fahnenflüchtigen, Nestbeschmutzern und üben sich in Selbstjustiz. Das Chaos ist perfekt. Höchste Zeit, etwas aufzuräumen.

Die Polkappen schmelzen
Schlorian (Stefan Haller) | (Nebelspalter)

Eher geht ein Hase durchs Nadelöhr, liegt ein Hund im Pfeffer und ist da ein Kamel begraben, als dass die Schweizer Politik von Anglern ausgehoben wird. Dachte man lange. Doch weit gefehlt. Die Auswirkungen der Klimastreikenden sind bereits bei diesem Text zu spüren, wie Sie im ersten Satz sicher unschwer festgestellt haben. Was nicht weiter schlimm ist. Früher oder später landet er ohnehin in der Altpapiersammlung, von wo er rezykliert und wahrscheinlich als dreilagiges Toiletten­papier wieder aufgerollt wird. So schliesst sich der ewige Kreis. Auf diesen konnte sich in den vergangenen Jahren auch die Politik verlassen. Im Wahlkampf ein paar leere Versprechungen machen, danach Cüpli saufen mit den Lobbyisten, bis alles am Arsch ist, um hier beim Bild des Toi­lettenpapiers zu bleiben.

Ausgerechnet die Jugend
Doch jetzt pfuscht ausgerechnet dieses Jungvolk rein, welches die älteren Semester in den vergangenen 20 Jahren so gerne als apolitisch, verwöhnt und egozentrisch abstrafte, obschon wir insgeheim froh waren, dass es uns in unserem Wohlstands- und Turbo-Kapitalismus in Ruhe liess. Die vom Klimastreik zum «Fridays for Future» aufgestiegene Bewegung will das Abschmelzen der Polkappen verhindern, erreicht aber genau das Gegenteil. Nämlich das Abschmelzen der politischen Polkappen links und rechts. Unweigerlich fühlen wir uns an den Schmetterlingseffekt oder die Chaostheorie erinnert. Da war eine kleine Schulstreikerin namens Greta Thunberg und plötzlich kommt Bewegung in die Schweizer Politik.  Oder vielleicht sollte man besser sagen: zeigen sich Auflösungserscheinungen.

«Oh My God»
Allen voran will FDP-Präsidentin Petra Gössi ihre  Fuck-de-Planet-Partei nicht nur mit rezykliertem Toilettenpapier umweltfreundlicher machen und provoziert einen partei­internen Streit. Schon gar nicht mehr streiten will Nationalrätin Chantal Galladé, die sich nach 30 Jahren in der SP nicht mehr mit der Sozialpä­da­gogen-Partei identifiziert und zu den Grünliberalen konvertiert. Schon wird spekuliert, Galladés Wechsel könnte eine Kettenreaktion auslösen und ehemalige Parteigenossen wie Pascale Bruderer oder Daniel Jositsch wie Dominosteine zum Umfallen bringen. Eigentlich müsste sich angesichts dieser Ereignisse der Gegenpol ins Fäustchen lachen. Doch dieser ist mit sich selbst beschäftigt. Zum einen mit peinlichsten Aussagen von nationalrätlichen SVP-Klimawandel-Leugnern wie Christian Imark oder Claudio Zanetti, bis hin zur Aargauer Nationalratskandidatin Nicole Müller-Boder, die twittert: «Wenn die Kinder den Film ‹Ice Age› kennen und sehen, dass es eine Eiszeit gab, und in einem weiteren Teil gezeigt wird, wie diese wieder verschwand, und sehen, dass es da noch keine Autos gab oder Industrie, werden sie auch sehen, dass es immer schon einen Klimawandel gab.» Neudeutsch kann man dazu nur in der Sprache der Jungen sagen: «OMG!»

Ans Messer
Nicht von Gott, aber zumindest von allen guten Geistern verlassen muss Luzi Stamm gewesen sein, der aus seiner Partei die Schweizer Volks-­Polizei gemacht hat, oder zumindest damit seinen Kauf von Kokain er­klärte. Böse Zungen behaupten, laut internen Parteianweisungen müsse bald jeder SVP-Politiker während des Wahlkampfs einen Delinquenten ans Messer liefern, egal ob Scheinasylant, Schwarzfahrer oder Dealer. Das goldene Parteiab­zeichen bekommen diejenigen, die einen in Personalunion abliefern. Damit will die Volks-Polizei die Aufmerksamkeit, weg vom Klima, auf die Asylpolitik lenken. Das ist dringend nötig.

Eine Stufe tiefer, auf kommunaler Ebene, spielen sich Sachen ab, die der wählerstärksten Partei ernsthaft Sorgen bereiten. In Appenzell Ausserrhoden verlor sie jüngst fünf von zwölf Sitzen im Kantonsparlament, dazu sind die Gemeindepräsidien in Herisau und Bühler futsch. Nicht besser erging es den Bürgerlichen im Kanton Zürich, wo ihnen die Grünen und Grünliberalen 18 Sitze abjagten. Da half noch nicht einmal die Nomination von Stefan Locher, dem Wahlfälschung vorgeworfen wurde.

Entspannt fliegen
Zusammenfassend muss festgehalten werden: Nach Klimademos und Fridays for Future wird die Chaostheorie schulbuchmässig untermauert. Insofern kann man nicht sagen, die jungen Streikenden würden nichts lernen. Vielleicht mehr als in einem Schulzimmer mit zu wenig Sauerstoff, aber das ist eine andere Geschichte. Und es geht weiter! Nachdem wir alles durcheinandergebracht haben, können wir jetzt wieder aufräumen. Nach dem Frühjahrsputz, im Herbst, wenn Wahlen sind. Vielleicht ebbt die grüne Welle bis dahin wieder ab, wenn wir, von der Klimadiskussion erholt, aus den Sommerferien zurückgeflogen sind.

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