Homo digitalis 4.0

Jan Peters | veröffentlicht am 05.04.2019

Erinnern Sie sich noch daran, was Sie am 21. März 2019 gemacht haben? Das war doch dieser elende Tag, an dem sich Ihre Holde in einen fauchenden Hausdrachen verwandelte, nachdem sie auf Ihrem iPhone den Link zu jenem Video ge­funden hatte, in dem «Cruella De Vil – kein Erbarmen!» ihrer Kundschaft diverse Dienstleistungen in ihrem SM-Studio vorstellte. Danach hing bei Ihnen der Haussegen ziemlich schief, gellet Sie?

Homo digitalis 4.0
Marina Lutz | (Nebelspalter)

Wir wollen Sie jetzt nicht an die peinliche Szene erinnern, die Ihnen Ihre eheliche Spassbremse wegen dieses harmlosen Filmchens machte, sondern kommen stattdessen schnurstracks zu den wesentlichen Dingen des Lebens: Wenn wir Ihnen im Zusammenhang mit dem 21. März das zusätzliche Stichwort «Wikipedia»
geben, dann steht Ihnen dieser Tag wahrscheinlich genauso plastisch vor Augen wie der 11. September, an dem die dunkle Seite der Macht beschloss, das World Trade Center mittels ausser Kontrolle geratener Flugmaschinen plattzumachen. Daran erinnern Sie sich doch noch, oder? Three-Twenty-first 2019 war genauso schlimm, denn dies war der grauenhafte Tag, an dem Millionen von Copy-and-paste-ExpertInnen beim Aufrufen von wiki­pedia.de ausschliesslich den blöden Text lasen: «Die Autorinnen und Autoren der Wikipedia haben sich entschieden, Wikipedia heute aus Protest gegen Teile der geplanten EU-Urheberrechtsreform abzuschalten.» Dies brachte jegliche journalistische und wissenschaftliche Arbeit zum Erliegen. Der Journaille blieb an diesem Black Thursday der Schreiberlinge nichts anderes übrig, als sich in ihre verstaubten Archive zu be­quemen und dort uralte Ladenhüter wie Erderwärmung, EU-Krise, Dieselskandal et cetera auszugraben und zum x-ten Mal breitzutreten.

Lebenslanges Lernen
Bevor wir nun topaktuelle Aspekte aus dem Universum der Digitalisierung herauspicken, sehen Sie eigentlich einen Zusammenhang zwischen der Klimaaktivistin Greta Thunberg und E-Learning? Wer diese Ökotrulla ist, das steht bei Wikipedia, das ja wieder funktioniert und uns sagt, dass «Greta Tintin Eleonora Ernman T.» immer freitags in Stockholm, Schweden, auf einem Trottoir hockt, statt wie anständige Kinder zur Schule zu gehen, sich dort den Arsch abfriert und ein Stück Pappkarton hochhält, auf dem steht: «Skolstrejk för Klimatet». Dass Klein-Greta etwas Unterricht nicht schaden könnte, ist klar und deutlich aus dem missratenen Text ersichtlich, den sie selbst verzapft hat: Das ist doch kein Deutsch so was – zum Henker! Wenn Sie jetzt sagen, der Schwede kann es halt nicht besser, seit den Nazis hat er auch keinen Bock mehr auf Deutsch, dann sagen wir Ihnen: Wir kaufen zwar auch bei Ikea, bestellen unser Essen dort aber auf Deutsch. Das unterscheidet uns vom Schweden: «48 Köttbullar – heja, heja!» Aktivieren Sie auf Ihrem Tablet die automatische Spracherkennung, dann lösen sich linguistische Probleme von selbst.

Wo stehen wir heute?
Wir wollen hier nicht auf Kulturpes­simismus machen, sondern kurz auflisten, welche handfesten Verbes­serungen uns das digitale Zeitalter
gebracht hat:

1. Sämtliche Artikel des mensch­lichen Grundbedarfs können wir heutzu­­tage problemlos im World Wide Web bestellen und uns frei Haus liefern lassen; musste man früher seinen Hausarzt noch in demütigender Weise um Aufputsch-, Beruhigungs- und Potenzmittel anflehen, so werden diese heute in Indien just in time produziert, von DHL zeitnah geliefert und in unserem Briefkasten deponiert. Exklusivere Produkte wie Crystal Meth, Plutonium, Spreng­fallen und Panzerhaubitzen bestellen wir im Darknet und bezahlen die­selben diskret mit Kryptowährung.

2. Was «Schwarmintelligenz» und die «Weisheit der Strasse» an zivilisatorischen Fortschritten bewirken, wurde kürzlich von den Gelbwesten auf
den Champs-Élysées vorgeführt, wo Fouquet’s bourgeoiser Fresstempel abgefackelt und altmodische Prunkbauten wie der Arc de Triomphe mit fetzigen Graffitis aufgepeppt wurden, um sie für EasyJet- und Airbnb-Partytouristen attraktiver zu machen.

3. Internetfirmen sehen sich aufgrund der Diversifikation ihrer Firmensitze leider ausserstande, Steuererklärungen abzugeben, da es ihnen unklar ist, welches Finanzamt für sie eigentlich zuständig ist.

Zivilisationsfortschritte
Damit jetzt nicht der Eindruck entsteht, wir sähen die Digitalisierung negativ, möchten wir abschliessend darstellen, welch frischen Wind die sozialen Netzwerke in den früher hoch komplizierten Bereich der mensch­lichen Kontaktaufnahme gebracht haben: Während ein Tanzstundenjüngling der 1960er-Jahre auf die Frage «Darf ich dich zu einer Cassata in die Eisdiele einladen, Mechthild?» von seiner Angebeteten die Antwort erhielt: «Vielen Dank, Wolf-Detlev, das ist sehr nett von dir; ich muss aber noch Hausaufgaben machen», so kommen Digital Natives heute schnörkellos zur Sache – Rapper auf WhatsApp an Tusse: «Geile Titten, Schlampe!» Tusse, Antwortniveau punktgenau auf Rapperlevel kalibrierend: «Hamse dir ins Gehirn geschissen, Missgeburt?» Bitte bewerten Sie Effizienz und Anmut dieser Entwicklung auf einer Skala von 1 bis 10.

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