
Grossfamilien haben eigene Gesetze. So gibt es in jeder Grossfamilie seltsame Tanten, die in der Vergangenheit leben, also den Zug der Zeit nicht ganz verstanden haben und dadurch ihren eigenen Stellenwert überschätzen. Noch dazu, wenn die alte Tante etwas abgeschottet lebt und aufgrund ihrer geografischen Speziallage ihre Spezialität ableitet. Wenn ihr nicht die gebührende Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, wird sie schnell verstimmt und begibt sich in den sogenannten Trotzwinkel. Und ist die Tante dann einmal zu lange in diesem Winkel geblieben, nützen auch besondere Zuwendungen des übrigen Clans nicht mehr wirklich. Das nervt natürlich, aber man ist eben eine Familie. Und irgendwann will dann diese Tante nicht mehr zu den Treffen kommen, weil die Paranoia des Nicht-verstanden-Werdens sich manifestiert hat.
Auf diesem intellektuellen Niveau spielt sich der Brexit vornehmlich ab. Grossbritannien ist, wie gesagt, eine Insel und seine Inselbegabung war es stets, die Rolle der spleenigen Tante mit den Sonderwünschen zu geben. Vielleicht ist das Problem dieser EU, dass es einfach zu viele dieser Tanten gibt.
Da haben wir zunächst die französische Verwandte, die ihr nasales Genuschle tatsächlich für die schönste Sprache hält und daher auch keine Fremdsprachen lernen will. So sind Kommunikationsprobleme vorprogrammiert. Auch diese Tante hat noch nicht ganz begriffen, dass ihre beste Zeit vorbei ist. Dennoch ist ein Fraxit kein Thema, da sie im Gegensatz zu ihrem britischen Pendant immerhin so viel Intelligenz besitzt zu wissen, dass sie ohne die Familie noch schlechter dastünde. Die italienische Tante lebt nicht in ihrer Vergangenheit, denn da liegen die glorreichen Zeiten doch zu weit zurück. Sich jetzt noch auf das Rinascimento zu berufen, wäre lächerlich, zumal viele Familienmitglieder aufgrund des allgemeinen Bildungsverfalls in der Familie gar nicht wüssten, wovon die Rede ist. Gross war die Freude, die Verwandtschaft aus dem Osten wieder am gemeinsamen Tisch begrüssen zu dürfen. Doch bald gaben deren Tischmanieren zu grosser Sorge Anlass. Alte Muster können offenbar doch nicht so rasch abgelegt werden und so weht immer noch ein ganz leichter Hauch von Restkommunismus durch die Familientreffen.
Jede Familie hat auch noch Sonderlinge. Österreich, dessen glorreiche Vergangenheit ebenso schon ein Weilchen her ist, musiziert gerne, gibt sich den Künsten hin und hält sich aus den meisten Familienstreitigkeiten gerne heraus. Das Zauberwort heisst «neutral», also keines von beiden. Manchmal auch beides. Also familienkritisch und Musterschüler. Dieser Januskopf könnte positiv als Improvisationstalent gesehen werden. Manche meinen allerdings, es handle sich lediglich um eine schnöde Form der Haltungslosigkeit, was der Sache schon näher kommt. Apropos Musterschüler, das Familienoberhaupt Deutschland hat nicht nur das grösste Vermögen, von dem einige arme Schlucker profitieren, sondern auch eine nette Eigenschaft, die Familienoberhäupter bekanntlich in aller Regel auszeichnet. Eine Form von Allwissenheit.
Es wird also nicht nur gewusst, ja nicht einmal nur besser gewusst, nein, hier wird quasi alles gewusst. Und das schafft grosse Beliebtheit. Bei jeder Familie gibt es auch entfernte Verwandte, wo nicht klar ist, auch ihnen selbst nicht, gehören sie nun dazu oder nicht. Bei der Schweiz sind gewisse Verwandtschaften festzustellen, andererseits auch ein gewisses Fremdeln. Tante ist die Schweiz sicher keine, eher der etwas geizige Onkel, der zu Besuch kommt, wenn es ihm gerade passt. Aber diese Onkel mag man ja, also meistens.
Und so sitzt man in der europäischen Familie halt immer wieder zusammen, isst, streitet, lacht manchmal. Niemand mag sich so recht, aber man kommt doch nicht voneinander los. Familie eben.