Michael Lauber

Marco Ratschiller | veröffentlicht am 31.05.2019

Heute wollen wir einmal genauer betrachten, wie Schweizer Journalisten aus einer Mücke einen Elefanten machen – beziehungsweise aus einer Lücke. Gefunden haben die Journalisten diese Lücke im Gedächtnis des amtierenden Bundesanwalts. Bundesanwälte sind unter Journalisten äusserst beliebte Rechercheziele.

Michael Lauber
Michael Streun | (Nebelspalter)

Das hat diverse Gründe. Einer davon ist ein numerischer. Während in Bern sieben Bundesräte das Land regieren und in Lausanne 38 Bundesrichter das Recht auslegen, amtiert stets nur ein einzelner Bundesanwalt. Das wird von Journalisten sehr geschätzt, denn sie spielen gerne auf dem Mann. Bereits bei einer Mannschaft wie dem Gesamtbundesrat haben Medienschaffende mehr Mühe. Departementsvorsteher wie «Mr. Together Ahead» Maurer, die öfter mal entgegen der eigenen Überzeugung den Willen des Kollegiums vertreten müssen, erregen eher Mitleid als Misstrauen.

Zudem sind Anwälte in der Bevölkerung ohnehin nur mässig beliebt. Deshalb hat Loredana Zefi, diese aufstrebende junge kosovarische Staranwältin, kürzlich ihren Job als Tochter von Valentin Landmann an den Nagel gehängt und arbeitet heute mit viel höherem Sozialprestige als Gangsterrapperin. Oder Rapgangsterin, das lässt sich wie in der Quantenphysik kaum exakt bestimmen. Sie ist nicht die einzige. Auch Valentin Roschacher, Vorvorgänger des heutigen Bundesanwaltes, tauschte 2006 seine Anwaltsrobe gegen den Malerkittel und pinselt seither monumentale Berglandschaften, auf denen möglichst wenig Journalisten zu sehen sind. Während Roschacher heute das Recht auf Vergessenwerden zugestanden wird, bemüht sich Michael Lauber bislang vergeblich um sein Recht auf Vergessenhaben.

Bundesanwalt Lauber kann sich also nicht an ein bestimmtes Treffen mit FIFA-Präsident Gianni Infantino erinnern. So what? Wie heuchlerisch ist es, jemandem etwas zur Last zu legen, das jeder gesunde Mensch von Natur aus ebenfalls tut: Erinnerungen vergessen. Denn alles andere ist, ganz offiziell, richtig krank. Das hyperthymestische Syndrom, kurz HSAM, das weltweit gerade einmal 61 Mal diagnostiziert wurde, führt zu einem absoluten Gedächtnis, das kein Detail vergisst.  Das ist weniger toll, als man zuerst denkt.

Jedem Smartphone-Besitzer dürfte es ja eigentlich klar sein: Die systematische Spei-cher­bereinigung ist auf Dauer genauso wichtig wie die Speicherfunktion selbst. Unser Gehirn arbeitet nicht anders: Unwichtiges wird permanent gelöscht. Und da wäre noch ein zweites Löschkriterium: Unerträgliches. Neun von zehn Gehirnen entscheiden sich bei der Frage, ob die Erinnerung an ein Treffen mit Infantino unwichtig oder unerträglich ist, vermutlich für die zweite Option. Jedenfalls kann sich unsere Redaktion, obwohl sich niemand an ein Treffen mit der FIFA erinnert, nicht sicher sein,  plötzlich doch für die Vergabe der nächsten WM nach Katar verantwortlich gemacht zu werden.

Die Kontroverse um Laubers Gedächtnis und Gebaren markiert ohnehin nur das letzte Aufbäumen der alten, analogen Welt.  Die Vorzüge des digitalen Zeitalters lassen die Leistungsdaten unserer Hirnmasse bekanntlich seit den 1980er-Jahren zurückgehen. Nicht nur Kopfrechnen und «Schillers Glocke, auswendig» findet längst nicht mehr in unserem Oberstübchen statt. Unseren ganzen Lebenslauf haben wir in Handyspeicher und Facebook-Galerien ausgelagert. Wer nicht mehr weiss, was er 2017 auf Ibiza nach einigen Wodka Red Bull für «bsoffne Gschichtn» von sich gegeben hat, braucht nur auf die Video-Veröffentlichung zu warten. Das kommende Internet der Dinge wird die ubiquitäre Überwachung auf ein neues Level bringen. Wer sich dereinst nicht mehr an etwas erinnert, kann einfach Jan Böhmermann anrufen. Jedenfalls, wenn er nicht gegen die 5G-­Antenne vor dem Haus demonstriert hat. Diese könnte eventuell nachtragend sein.

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