Der Tag danach

Ralph Weibel | veröffentlicht am 31.10.2019

Wenn früher alles besser war, heisst das eigentlich, dass es uns gestern besser ging als heute. Aber gestern ging es uns schon schlechter als vorgestern. Und morgen wird es uns noch etwas schlechter gehen als heute. Eine düstere Perspektive. Nicht daran zu denken, wie wir uns übermorgen fühlen werden!

Der Tag danach
Christian Sonderegger | (Nebelspalter)

Paul liegt in seinem Bett und ächzt, von Schmerzen gepeinigt. Seine Liebste erkundigt sich besorgt, wo es heute weh tut. Mit zu­nehmendem Alter häufen sich diese Vorfälle. Früher sprang Paul morgens aus dem Bett und warf sich wie Winkelried in die Speer­spitzen der Leistungsgesellschaft, stellte sich dem Berufsalltag, nahm jede sportliche Herausforderung an und hatte am Abend noch die Kraft, den ehelichen Pflichten nachzukommen. Heute spürt er keine fiebrigen Lenden mehr, nein, es zwickt ihn ganz einfach in der Leiste.

Heute quält er sich aus dem Bett, schleppt sich durchs Haus, drückt sein Kreuz durch und stöhnt. Die Blicke seiner Frau begleiten ihn mit der spitzen Bemerkung: «Selber schuld, wenn du es nicht lassen kannst.» Wider alle Vernunft hatte Paul sich gestern dazu hinreissen lassen, an einem Hallen-Fussball-Turnier teilzunehmen – Kategorie Veteranen. Es war grossartig. Mit seinen Freunden spielte er die Gegner in Grund und Boden. Sie wirbelten durch die Halle wie damals, als sie 20 waren. Sie hechteten durch die Luft, schlugen Haken, ohne sich zu über­legen, was morgen sein wird. Sie waren so unbekümmert, wie es nur Männer sein können: gros­se Kinder eben.

Doch zu welchem Preis? In den nächsten Tagen werden sie gebückt durchs Leben gehen, wie Fragezeichen. Im besseren Fall. Im schlechteren hinken sie durch den Berufsalltag, ziehen ein Bein nach, klammern sich beim Treppensteigen an Geländer und stossen beim Ein- und Aussteigen in ihre Autos Laute des Schmerzes aus. So geht es denen, die es gut getroffen haben. Ein Teil ihres Teams wird sich täglich beim Physiotherapeuten die Klinke in die Hand drücken, bis alle Wirbel wieder da sind, wo sie hingehören. Das hat sich schon vor dem ersten Spiel abgezeichnet, danach bestätigt und ist bis zum Schluss zur Gewissheit geworden.

Als junge Männer unterhielten sich Paul und seine Freunde im Umkleideraum über alles Mögliche. Am liebsten über weibliche Eroberungen. Heute erzählen sie sich von Schmerzen, berichten von Meniskusoperationen, lottrigen Bändern, Zerrungen, Verspannungen, Verhärtungen, Arthrose und Knorpelschäden. Sie berichten über Erfahrungen mit verschiedensten Salben, reden über Vitamin- und Kalziumtabletten, tauschen Ad­ressen von Wunderheilern, welche die Schmerzen zu lindern versprechen. Bevor Stefan Fussballschuhe schnürt, zieht er sich Stützstrümpfe an. Paul schwört auf Pferdesalbe. Die mit dem Vermerk: «Haftet gut im Fell». Doch eigentlich nützt alles nichts. Nach vollbrachten Heldentaten auf dem Feld der Ehre hängen sie ächzend in der Garderobe und geben ein jämmerliches Bild ab.

Und wozu das alles? Weil sie als Helden gefeiert werden wollen! Männer wollen sich nicht eingestehen, dass ihre Körper Rost ansetzen, die Bäuche nur schwer an ihrer Expansion gehindert werden können und die Beine entscheidend langsamer sind, als die Gedanken unter den Stirnglatzen. Dabei spielen Männer nicht für sich Fussball. Oh nein! Sie machen es für ihre Frauen. Leider begreifen die das nicht. Anstatt ihre Männer bewundernd zu empfangen, wenn sie die geschundenen Körper nach Hause schleppen, machen sie ihnen Vorwürfe, wie töricht sie seien. Anstatt ihre Schmerzen mit Salben und Massagen zu lindern und Lob auszusprechen, lassen sie ein schnippisches «selber schuld» fallen.

Dabei, liebe Frauen, müsst ihr euch bewusst sein: Männer spielen nicht Fussball, um in Umkleidekabinen sexistische Witze zu erzählen oder nach dem Spiel mit Freunden um die Häuser zu ziehen und Bier zu trinken. Sie machen es nur, damit ihr Frauen stolz auf sie sein könnt.

loader