
Anfang Dezember hat das frisch gewählte Parlament in Bern seinen Betrieb aufgenommen. Für 68 National- und Ständeräte ist es die erste Session unter der Bundeskuppel. Demgegenüber sind in den vergangenen Wochen 29 National- und 3 Ständeräte abgewählt worden. Gut, «abwählen» kennt unser Wahlsystem eigentlich gar nicht – nur «nicht wiederwählen». Schade eigentlich. Online geht das doch auch. Da hat man nicht nur die Wahl zwischen «liken» und «nicht liken». Da steht uns inzwischen ein ganzes Arsenal von Frust und Vergeltung zur Verfügung. Den «Daumen nach unten» und den «wütenden Blitz» fürs Alltägliche, den Kothaufen und das Kotz-Emoji fürs Dezidierte. Mit Negativzinsen kommen wir inzwischen ja auch klar, Negativlisten fürs Stimmcouvert würden die Wahlen garantiert positiv beeinflussen.
Unter den Wahlverlierern ist alt CVP-Ständerat Filippo Lombardi gewissermassen «Primus inter Pares». Seine Nichtwiederwahl war besonders überraschend, besonders knapp, besonders dramatisch. Ganze 45 Stimmen haben ihm am Ende gegen seine SP-Konkurrentin Marina Carobbio gefehlt. Das sind magere 1,2 Promille Stimmenunterschied. Vergessen wir nicht, dass Filippo Lombardi vor Jahren schon einmal mit 0,6 Promille Pech hatte. Ebenfalls auf dem Weg nach Bern, wenn auch irgendwie anders.
Die Abgewählten-Rente, die der Bund bei finanzieller Notlage für maximal zwei Jahre entrichtet, hat der Tessiner zwar kaum nötig. Bestimmt hätte er aber Freude an einem Gutscheinblock, der ihm erlaubt, den ersten zehn Nichtwählern straflos eine zu scheuern, die ihm ihr naives «Auf eine einzelne Stimme kommt es sowieso nicht an» vor den Latz lallen. Jede Stimme zählt, stupido!
Die Nichtwählerei ist die grosse, fiese Unbekannte einer Demokratie. In unserem Land ist es bald 50 Jahre her, seit sich letztmals mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne bequemt haben. Die Stimmlosen stellen seither die absolute Mehrheit. Der wahre Volkswille versteckt sich folglich hinter dem Schleier der Wählermobilisierung. Wenn Journalisten und Experten von «politischen Beben» und «Erdrutschsiegen» plaudern, haben wir es gar nicht zwingend mit tief greifenden Meinungsverschiebungen in der Bevölkerung zu tun. Die Wahlresultate widerspiegeln in erster Linie, welche Politiker und Parteien zum Zeitpunkt x mehr Leute ins Stimmlokal bewegen konnten.
Steht die Tatsache, dass die Geschicke unseres Lands seit Jahrzehnten nur von einer Minderheit bestimmt werden, nicht in einem seltsamen Kontrast dazu, wie sakrosankt wir den Volkswillen handhaben? «Das Volk hat immer recht» ist ein Mantra, das an jedem Abstimmungssonntag die Reaktionen und Analysen durchdringt. Nur ist seit 1975 unser Parlament nie mehr von der Mehrheit der Wahlberechtigten, sondern stets von der Minderheit der Wahlwilligen bestellt worden. Ich führe für diese Minderheit darum offiziell den Ausdruck «Wälk» (wählendes Volk) in die politologische Diskussion ein.
Nicht das Volk hat die Politik, die es verdient, sondern das Wälk. Und weil die Politik, die das Wälk liebt, Symbolpolitik ist, wird es in den kommenden vier Jahren auch ganz viel Symbolpolitik serviert bekommen. Das Wälk selbst hat es vorgemacht. Es hat bei der Wahl des neuen Parlaments seinerseits in erster Linie Zeichen setzen wollen. Auf dem Höhepunkt des «Klimajahres» haben viele die grüne Verpackung gewählt, obwohl die bis anhin bevorzugte rote Verpackung praktisch dieselben Inhalte geboten hat. Logisch, dass sich die gestärkte grüne Fraktion im Bundeshaus zu Beginn der neuen Legislatur nicht sogleich mit unbändigem Veränderungswillen in die nachhaltigere Realpolitik stürzt, sondern zuallererst auf ein Machtsymbol fokussiert: den eigenen Sitz im Bundesrat.
Vielleicht sehen manche von uns einfach schon weiter als die anderen. Vielleicht ist den Symbolpolitikern schon seit Langem klar, dass wir gar nicht mehr aufhalten können, was wir ins Rollen gebracht haben. Und darum setzen sie Zeichen. Für uns und für jene, die – falls noch vorhanden – dereinst über unsere Zeit befinden werden. Immerhin hatte die Schweiz damals eine grüne Bundesrätin. Immerhin hatte das europäische Parlament damals den Klimanotstand ausgerufen. Immerhin fährt Teslas neuer Pick-up-Panzer vollelektrisch. Immerhin haben die Nichtwähler Filippo Lombardi eine weitere Legislatur erspart. So kann er sich um seinen Club Ambrì-Piotta kümmern, solange Kunsteis noch erlaubt ist.