Süssholz raspeln

Rebekka Lindauer | veröffentlicht am 06.12.2019

Süssholz raspeln
Aaron Gruber | (Nebelspalter)

Ich wuchs unweit einer Schokoladen­fabrik auf und wurde im Sommer bei offenem Fenster durch den süsslich-­betörenden Duft von Kakao und Butter geweckt. Eines Nachmittags spielte ich draussen mit den Nachbarskindern, der Duft von Schokolade lag wie immer in der Luft, als uns mustergültig und pünktlich um sechzehn Uhr die Mutter des einen Nachbarskindes in ihren Garten rief, denn es gäbe nun etwas Süs­ses. Voller Freude rannten wir zu ihrem Gartensitzplatz; was wir dann von ihr erhielten, war eine Lektion fürs Leben: Es gab für jedes von uns Kindern einen Süssholzstängel.

Bis zu diesem Moment dachte ich, dass Stöckchen was für Hunde sind. An dieser harten Wurzel wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, dass mich meine Mutter wirklich liebte. Sie hätte mich und meine Kameraden niemals unter dem Vorwand von was Süssem in den Garten gelockt, um uns dann ein Stöckchen zu geben, an dem wir uns die Zähne ausbeissen und Holzfasern in den Zahnzwischenräumen einklemmen, die wir in den nächsten Wochen nicht mehr rausbekommen würden. Durch diese Geste hat die Nachbarin auf eine sehr perfide Weise klargestellt, dass Muttersein gutschweizerisch gesagt kein Schoggijob ist. Zudem ist Süssholz keine süsse Belohnung, sondern eine harte Strafe, wenn in der Luft der Duft von Schokolade hängt. Wobei ich aus der heutigen Distanz natürlich gestehe, dass meine Interpretation jenes Süssholz-Geraspels auf keinerlei Fakten beruht. Über die wahren Beweggründe dieser Mutter bleibt nur zu spekulieren.

Vielleicht war es eine rein moralische Aktion gegen die Schokoladenindustrie, die unter dem Vorwand einer süssen Versuchung,  eines besseren Lebens, Kinder in ihre Plantagen lockt und sie dort versklavt. Da schuften dann zarte Kinder bitter, um Rohstoffe für beliebte «Kinder-Produkte» zu gewinnen, die im Verkaufsregal auch noch so heissen! Vielleicht war es aber keine ethisch motivierte Handlung, sondern sie wollte uns Kindern einfach zu begreifen geben, dass man nicht alles glauben sollte, was man hört, weil man dann meistens enttäuscht wird. Es könnte auch sein, dass sie eine überzeugte Genuss-Verweigerin war.

Die gibt es wirklich! Die Eltern meines Göttibuben Julien haben sich der höchsten Form von Selbstoptimierung verpflichtet: der Orthorexie. In dieser Ernährungsform wird in erster Linie akribisch auf die Gesundheit der Lebensmittel geachtet. Sie sollen frei von Giftstoffen, tierischen Fetten, Weizen und selbstverständlich Zucker sein, aber auch frei von Flugscham. Wenn sich Orthorexiker oder Genuss-Verweigerer darüber unterhalten, was sie kochen möchten und wo sie einkaufen sollten, regt das meinen Appetit etwa so an wie eine Steuererklärung oder ein Lied von Gölä. Ich denke dann immer, dass ich ja Gott sei Dank noch dem Genuss ohne Gewissensbisse frönen kann.

Jedenfalls kam es, wie es kommen musste, und ich wurde von Juliens Eltern zum Chlaus-Apéro in ihrem gemeinschaftlichen Mehrfamilienhaus eingeladen. Gerade da gestatte ich mir die Frage, für wen hier die süsse Versuchung ist, für das Kind, das sich freut, vom Samichlaus süss beschenkt zu werden, oder für den Chlaus, dem endlich süsse Kinder auf den Schoss sitzen dürfen?

Auch hier wird doch ordentlich Süssholz geraspelt, die Eltern lügen ihre Kinder knallhart an und erzählen ihnen irgendeine Geschichte eines alten bärtigen Mannes namens Samichlaus, der ein rotes Kleid trägt und angeblich aus dem Wald kommt. Aus welchem Wald spielt offensichtlich keine Rolle. Mit seinem Lebensgefährten Schmutzli und einem Esel bringt er Kindern Geschenke mit – natürlich nur, wenn sie auch brav waren, und um das zu beweisen, müssen sie sich als Erstes auf seinen Schoss setzen. Soviel ich weiss, kommen alte Männer mit roten Kleidern, die gerne Kinder auf ihren Schoss setzen, eher aus dem Vatikan als dem Wald. Ich schweife ab, zurück zum Chlaus-Apéro und dem eigentlichen Problem: Mich plagte die Frage, was wohl der zwangs­ orthorexisch ernährte Julien in seinem Chlaus-Sack haben würde?

Um Gottes willen! Süssholz! Moralisch infiziert von meinem Kindheitstrauma ertrug ich den Gedanken nicht, dass dieser arme Junge Süssholz bekäme, und alle anderen Kinder Schokolade. Nein, das würde zu weit gehen. Da die Kesb für solche Fälle offenbar nicht zuständig ist, musste ich als seine Göttin (so nennt mich Julien) einschreiten. Ich klärte den Vierjährigen über den Samichlaus auf, und als er von diesem aufgerufen wurde, entgegnete ihm Julien: «Du bist gar nicht der Samichlaus aus irgendeinem Wald, sondern Werner Hunziker, der Maître Chocolatier aus dem 1. Stock, und ich weiss ganz genau, dass du Schoggi mitgebracht hast!»

Jede noch so winzige Änderung im Dispositiv eines Schweizers wirft ihn aus seinem Setting. Was sich an jenem Chlaus-Apéro abspielte, übertraf jedoch alles bei Weitem: Kinder gerieten ins Tobsucht-Delirium, weil sie soeben erfahren hatten, dass sie jahrelang belogen und betrogen wurden, und das von den eigenen Eltern. Die Erwachsenen beschuldigten sich gegenseitig, nicht nur die Erziehung ihrer Kinder, sondern auch die der anderen zerstört zu haben. Eine Mutter schimpfte: «Das habt ihr jetzt von eurem Gesundheitswahn! Der Junge will doch auch einmal was Gutes haben!»

Und so begab es sich, dass blankes Chaos, Gewehr bei Fuss, Sodom und Gomorrha im Mehrfamilien-Kleinbürgertum dem vermeintlichen Chlaus, mit oder ohne Schoggi, nur noch den Rückzug in den 1. Stock anzutreten übrig liessen. Herrlich, dachte ich mir, Weihnachten kann kommen.

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