Untertänigst

Hans Durrer | veröffentlicht am 06.12.2019

Der Mensch bedürfe der Führung, kann man allenthalben hören; ein Chef sei schon deswegen nötig, weil jemand die Verantwortung tragen müsse. Nun ja, ich selber hatte noch nie eine Chefin oder einen Chef, der nicht gänzlich überflüssig gewesen wäre. Und auch noch nie einen, der bei einem Misserfolg Verantwortung übernommen hätte.

Untertänigst
André Poloczek | (Nebelspalter)

«Ach komm», sagte mein Freund Heiri, guck doch mal in die Natur, auch da braucht es Leithammel. «Schon mal einen Vogelschwarm gesehen?», gab ich zurück. «Oder einen Fischschwarm? Da gibt es keinen Anführer, die funktionieren alle aufeinander abgestimmt.» Als Heiri erwiderte: «Nur ist der Mensch eben weder Fisch noch Vogel», fragte ich zurück: «Ja, ist er denn etwa ein Wolf?» Ich meinte die Frage zwar rhetorisch, doch kam mir sofort «homo homini lupus» (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) in den Sinn.

Selbsterfahrung
Da sich ideologisch begründete Fragen selten befriedigend lösen lassen, ist es womöglich sinnvoller, sich auf die eigene Erfahrung zu verlassen. Als ich mich vor Jahren in Berlin um eine Stelle als Geschäftsführer einer interkulturellen Stiftung bewarb, fragte die Stiftungsgründerin: «Gesetzt den Fall, Sie kriegen die Stelle, dann wäre ich Ihre Vorgesetzte. Macht es Ihnen Mühe, einer Frau, die drei Jahre jünger ist als Sie, unterstellt zu sein?» – «Selbstverständlich», erwiderte ich. «Ich habe generell Mühe, jemandem unterstellt zu sein, ob Frau oder Mann. Doch habe ich gelernt, mich damit zu arrangieren, das wäre also kein Problem.» Sie guckte irritiert, Chefs erwarten Untertänigkeit und vorauseilenden Gehorsam. Mir war klar, die Stelle konnte ich vergessen. Und so war es denn auch.

«Don’t follow leaders», hat John Lennon einst gemeint, und das gilt natürlich vor allem, wenn die sogenannten Leaders solche Deppen sind, wie wir sie heutzutage aus den Medien kennen. Tolstoi war übrigens der Meinung, dass die Vorstellung, ein Führer würde führen, gänzlich verkehrt sei. Vielmehr sei es so, dass die gewählten Machthaber nichts anderes täten, als auszuführen, was die Mehrheit sowieso denke, fühle und glaube. Der Führer wäre mithin die Verkörperung des Durchschnitts. Das beste Beispiel dafür ist der Schweizer Bundesrat.

Befehlskette
Würde der Mensch anstatt zum Gehorsam zur Eigenverantwortung erzogen, sähe die Welt entschieden anders aus. Bei den Aufräumarbeiten nach 9/11 wurde nur wenige Journalisten erlaubt vor Ort zu dokumentieren, was vor sich gegangen war. Einer von diesen war William Langewiesche, der beschrieb, wie die üblichen Befehlsketten nicht mehr funktionierten, weil viele der leitenden Feuerwehrleute ums Leben gekommen waren. Nun zeigte sich, dass Leute, die zuvor nichts zu sagen hatten, initiativ wurden und mittels selbstverantwortlicher Taten zeigten, dass die gängige Hierarchie vor allem eines war: willkürlich.

Nur eben: Von Tatsachen lässt sich der Mensch noch lange nicht belehren. Vor allem dann nicht, wenn ihm eingetrichtert wurde, an Helden zu glauben. Und so wurde nach 9/11 der damalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani von den Medien zu «America’s Mayor» erkoren. Im Lichte der gegenwärtigen Ukraine-Affäre mutet es verwunderlich an, wer damals aufs Podest gehoben wurde.

Eigenverantwortung
Als vor einigen Jahren ein neuer Bundesrat gewählt worden war, fragte ein Journalist den Generalsekretär des Departements, dem der neue Mann künftig vorstehen würde, ob er denn keinen Bammel habe, da er bald einen neuen Chef kriegen würde. «Überhaupt nicht», sagte der, «ich kenne den Laden.»

loader