
Optimistisch wie der Hase sind wir ins letzte Jahrzehnt gestartet. Am Ziel waren wir dann doch geschlagen, der Igel war schneller. Die Revanche gewann wieder und wieder der Igel, egal wie schnell der Hase rannte. Was wir aus einem grimmschen Märchen lernen könnten: Erst denken, dann laufen.
Wenn der Hase nicht so von seiner läuferischen Überlegenheit überzeugt gewesen wäre, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass er zwischen Herrn und Frau Igel hin- und herrannte. Er liess sich aber übertölpeln, ähnlich wie wir es machten in der vergangenen Dekade. Und so stehen wir am Ende der vergangenen, und am Anfang der neuen, mit schamgerötetem Gesicht da. Insbesondere als heterosexueller, weisser Karnivore über 50 lebt man nur noch mit einem schlechten Gewissen. Man ist per se sexistisch, beherrscht keine gendergerechte Sprache, ist zu alt für den grassierenden Fitnesswahn und bei allem, was auch nur ein bisschen Spass macht, schreit es aus allen Ecken: «Flugscham, Fleischscham und Konsumscham!» Das muss auch mal gesagt werden. Wenn gleichzeitig das Gefühl der Glückseligkeit laut «World Happiness Report» in der Schweiz steigt, stellt sich unweigerlich die Frage, ob dieser Zustand wegweisend ist für die 2020er-Jahre.
Dabei schien das vergangene Jahrzehnt so hoffnungsvoll zu starten. Nicht zuletzt dank der rasanten Verbreitung des Smartphones. Dieses ermöglichte in Tunesien den Beginn des Arabischen Frühlings. Endlich konnten sich Geknechtete über soziale Medien verbünden und gegen das Böse ankämpfen. Einen herben Dämpfer erhielt die grosse Hoffnung auf Demokratie mit den ersten freien Wahlen in Tunesien. Als Gewinnerin ging die islamistische Partei Ennahda daraus hervor. So war das sicher nicht gedacht.
Schwieriges Erbe
Genauso wenig wie das Erbe, welches wir in die neue Dekade übernahmen: eine Gesellschaft, die von Kindsbeinen an handysüchtig, die rund um die Uhr erreichbar und verfügbar ist und dafür wie Lemminge in ein kollektives Burnout läuft. Beziehungen versuchen wir mit Swipen, dem Wischen nach links und rechts, zu knüpfen, was selten, aber trotzdem in die Hosen geht. Obschon die Bevölkerungszahl in der Schweiz steigt, stagniert die Geburtenrate. Das Smartphone verbindet uns nicht, es entzweit uns. Jeder Idiot kann Hasskommentare und Fake News verbreiten und das dumme Liken von diesen, mit einem erhobenen Daumen, steht noch immer nicht unter Strafe. So war das sicher nicht gedacht.
Geissel der Menschheit
Jede dumme Äusserung oder Handlung, die sich früher wie der Rauch über einem Stammtisch auflöste, wird heute digitalisiert und bleibt erhalten. In der Folge kommen wir zur zweiten Geissel der modernen Welt, der Empörung. Als Beispiel sei hier das Geri-Gate erwähnt, schweizerisches Synonym für das Verschicken von Nacktselfies. Früher hätten wir über so viel Dummheit gelacht. Heute empören wir uns, moralisieren und hoffen gleichzeitig, keiner könne unseren Suchverlauf im Internet nachverfolgen. Dabei ist Empörung längst zur Marketing-Strategie geworden. Jüngstes Beispiel ist der Kandidaten-Vergleich der CVP im vergangenen Wahlherbst. Dieser wurde nicht mit Ignoranz gestraft, im Gegenteil. Die Partei, die vor allem an sich selber zweifelt, zumindest an ihrem C im Namen, wurde kurzzeitig zum meistgetwitterten Schlagwort. So war das sicher nicht gedacht.
Populismus
Womit wir bei Twitter wären. Paradoxerweise lässt sich mit Fake News das selbst ernannt wichtigste Land der Welt ganz einfach regieren, obschon die Aufgabenstellungen immer komplexer werden. Das wiederum funktioniert nur mit Vereinfachung, was zwangsläufig zu Populismus führt. Darin gibt es nur eine Wahrheit und die heisst: «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.» Eine Grundhaltung, die erschreckend um sich greift. In der Schweiz genauso wie im Weissen Haus oder in Gretas ungeheizter Waldhütte. So war das sicher nicht gedacht.
Daraus erwächst die dritte neunschwänzige Katze, mit der wir uns selber geisseln, das Bedürfnis, jeden und alles zu reglementieren. Wir diskutieren und erlassen Burkaverbote, Litteringgesetze oder stimmen über ein «Verbot zur Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung» ab, als ob man in der Schweiz täglich Homosexuelle wie eine Sau durchs Dorf treiben würde. Gesellschaftliche Akzeptanz manifestiert sich in der Diskussion über geschlechterneutrale Toiletten. Es reicht uns nicht, dass wir Rauchverbote eingeführt haben, mittlerweile darf man noch nicht einmal mehr auf dem ungedeckten Perron eines Provinzbahnhofes rauchen, sondern stellt sich dafür in ein auf den Boden gemaltes, gelbes Quadrat. Halt! Machen wir endlich einen Punkt. So war das sicher nicht gedacht.
Der Hase rennt ins Ziel
Natürlich hat jede und jeder eine andere Meinung darüber, welches Problem nun grad das dringlichste ist. Dabei haben wir uns in einigen Sachen verrannt. Das wird sich in den kommenden zehn Jahren teilweise ändern, sind sich Zukunftsforscher einig. Wir haben das Wissen, und die Fähigkeiten dafür steigen langsam. Wünschenswert wäre etwas mehr Optimismus für die neue Dekade, und sicher würde uns etwas mehr Gelassenheit nicht schaden. Voraussetzung ist allerdings, dass wir nicht einfach wie unser hyperaktiver ADHS-Hase seit Beginn dieses Textes gedankenlos zwischen den beiden Igeln hin- und herrennen.