Fremder im fremden Land

Hans Durrer | veröffentlicht am 28.02.2020

Als Fremder in einem fremden Land hat man das Pri­vileg, sich danebenzu­be­nehmen, Dinge zu wagen, die man sich zu Hause nie trauen würde. All das wird einem nachgesehen. Weil man nicht zählt. Jedenfalls nicht richtig. Als Mensch. Als wandelnder Geldbeutel schon.

Fremder im fremden Land
Matthias Schwoerer | (Nebelspalter)

In China
Als ich 2002 an einer chinesischen Universität Englisch unterrichtete, gab es Minibusse, die zwischen Uni und Stadt verkehrten. Die Buschauffeure fuhren derart halsbrecherisch, dass ich um mein Leben fürchtete. Die Studierenden auch, «aber man könne nichts machen», sagten sie. Ich liess mir auf ein Blatt schreiben «Bitte langsam fahren» und hielt den Zettel dem Busfahrer vor die Nase. Dieser grinste, nickte und siehe da, die Fahrt ging in zivilisiertem Tempo vonstatten. Doch kaum war der Bus aus der Stadt, drückte der Fahrer wieder aufs Gaspedal. Ich brüllte auf Englisch «Hey, spinnst du?» Ich hätte auch auf Schweizerdeutsch brüllen können, meine Worte verstand eh keiner, meine Botschaft hingegen schon, jedenfalls der Fahrer.


In Thailand
Der Amerikaner Jim und ich wurden im Hotel Golden Palace in Bangkok als «longtime residents» für die Thais plötzlich zu wir. Was mir nicht sehr angenehm war. Jim regte sich ständig über Thailand und die Thais auf. «Die gehören alle auf den Rücken eines Wasserbüffels, in einer Stadt haben diese Bauerntölpel nichts verloren.» Jim wusste, wovon er sprach, er stammt selber vom Land. Das Problem mit ihm war, dass er nicht immer so genau wusste, was sich gehörte und was nicht. «Also das Rad hätten die Thais nie und nimmer erfunden», ereiferte er sich. «Ich selber vermutlich auch nicht», warf ich ein, doch er war nicht zu bremsen, bis er beim einzigen Thema war, bei dem wir einig gingen – dem Verkehr, der so recht eigentlich keiner ist, denn da verkehrte selten etwas und mutete eher wie ein gigantischer Parkplatz an. Das sehen übrigens die Thais, jung und alt, genauso.


In Brasilien
Expats nehmen Dinge wahr, die den Einheimischen vollkommen entgehen. Dass es zum Beispiel eigenartig ist, dass man sich in Brasilien zum Biertrinken und Grillieren an Tankstellen einfindet. Oder man überall mit Klappstühlen unterwegs ist, die am Strassenrand oder vor der eigenen Haustür aufs Trottoir gestellt werden, als Einladung zum Plaudern.

Als Expat war ich ein Exot. Doch auch ich bekam mit, dass die brasilianische Verwaltung ein absoluter Albtraum sein muss. Sogar Diebe tragen dem Rechnung: Als meinen Gastgebern einmal Geld aus der Wohnung entwendet wurde, fand sich anderntags das Portemonnaie, ohne Geld, doch mit allen Ausweisen, im Briefkasten. Aus Rücksicht, wurde mir erklärt, denn auch Diebe wüssten, wie nervenaufreibend es sei, zu neuen Dokumenten zu kommen.

Einmal fragte ich einen jungen Mann, weshalb man in Brasilien nie eine konkrete Antwort bekomme? Er grinste: «Ich nehme an …» – «Genau, das meine ich», unterbrach ich. «Du nimmst an, das ist typisch. Lass mich dir noch ein Beispiel geben: Was machst du heute nach der Schule?» – «Ich denke, ich werde vermutlich Videos anschauen.» – «Weshalb kannst du nicht sagen: Ich schaue mir Videos an?» – «Nun ja, vielleicht kommt ja etwas dazwischen.» – «Ist dir schon einmal etwas dazwischengekommen, als du dir Videos anschauen wolltest?» – «Eigentlich nicht, doch schliesslich weiss man nie.»

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