Gelebte Dystopie

Marco Ratschiller | veröffentlicht am 03.04.2020

Sind Humor und Satire in Krisenzeiten noch angebracht? Ja! Sie sind sogar essenziell. Nicht nur für uns Produzenten.

Gelebte Dystopie
Nebelspalter | (Nebelspalter)

Die Geschichte dieses Magazins, das in den düsteren Jahren des Zweiten Weltkriegs zur Legende wurde, ist dafür der beste Beweis. Unsere Welt steht kopf, unser Leben hat sich in wenigen Wochen radikal verändert. Was gestern undenkbar war, ist heute Realität und morgen bereits wieder überholt. Das kannten wir so nur von Covfefe-Donald.

Das Weglachen von Ängsten, Sorgen und Nöten, von Misständen, Bedrohungen und Bedrückendem stand vor Jahrhunderten ganz am Anfang der Entwicklung satirischer Zeichnungen und Texte. Daran hat sich bis heute nichts geändert, nur dass wir heute eine Vielzahl von Perspektiven einnehmen. Während in Italien und Spa­nien Militärkonvois für Leichentransporte eingesetzt werden, verbreiten andere noch immer ihren «Jede Grippe ist gefährlicher»-Blödfug. Während die einen ihr neues Homeoffice als tolle Entschleunigung feiern, stehen andere bereits wankend am Abgrund ihrer finanziellen Existenz. Während sich für die meisten die Abstandsregeln und Absperrbänder im Supermarkt noch als unwirkliches Spiel anfühlen, erleben andere in voller Schutzmontur den Ernst der Lage an Triage-Stationen und auf Intensiv-Abteilungen. Es ist für alle etwas dabei, die Meinungsfreiheit kennt keinen Lockdown.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist nicht neu in unserer Gesellschaft, sie hat sich nur weiter akzentuiert. Sehen wir, wenn wir nach Bergamo blicken, zwei Wochen in unsere eigene Zukunft? Sehen Sie, wenn Sie Tage nach Redaktionsschluss durch dieses Heft blättern, bereits in eine Vergangenheit, die seltsam entrückt wirkt?

Seit unsere Kinos, Theater und Bibliotheken dichtgemacht haben, sind wir selbst zu Akteuren geworden in einem Genre, von dem wir uns bislang leidenschaftlich haben unterhalten und gruseln lassen: Zukunftserzählungen mit negativer Grundstimmung waren immer schon beliebt. Nun sind wir selbst gelebte Dystopie geworden.

Noch ist das Drehbuch nicht zu Ende geschrieben, doch längst schon streiten selbsternannte Kritiker lautstark darüber, wie lange der Film werden soll, was er kosten darf und wer sich in der Schlussszene in Arme fallen wird. Die meisten von uns hoffen, Statisten zu bleiben und nicht Statistik zu werden. In der Nebenrolle hat man kaum Einfluss auf die Handlung. Aber vielleicht kann man etwas für bessere Dialoge tun – denn diese sind in fast allen Science-Fiction-Werken schlicht scheisse. Genau das haben wir vor: Sie mit Humor und Es­prit durchs Set zu begleiten, egal ob es ein Kurzfilm oder ein Langstreifen wird.

Artikel erschienen in der Ausgabe

loader