Poetry Slam: Dosenravioli

Kilian Ziegler | veröffentlicht am 03.04.2020

Manchmal denke ich: Kilian, du musst die Welt verändern! Gutes tun! Grosses schaffen! Dann aber fällt mir ein: Ich bin fünfunddreissig Jahre alt, jetzt lohnt es sich gar nicht mehr. Was mich zugleich erschreckt. Seit wann bin ich so desillusioniert? Das war doch nicht immer so.

Poetry Slam: Dosenravioli
Nebelspalter | Kilian Ziegler, wollte ein Luftschloss bauen, doch sein Baugesuch wurde abgelehnt.

Als Kind war ich ein sorgloser Träumer, sass im Garten auf dem Baum und hatte einen grossen Wunsch: vom Baum wieder runterzukommen (ich habe Höhenangst). Als Kind wollte ich ein Cowboy sein. Ein Abenteurer. Ein freischaffender Ritter mit Lanze (der Fachausdruck ist Free-Lance). Ich habe fest daran geglaubt: Die Welt steht mir offen. Wie oft schaute ich in meinem Zimmer aus dem Fenster in die Ferne und dachte: Irgendwo dort draussen wartet etwas ganz Besonderes auf mich. Heute schaue ich um zwei Uhr nachts angetrunken in den Kühlschrank und denke: Irgendwo dort drinnen wartet etwas ganz Besonderes auf mich. (Aber dann koche ich trotzdem wieder bloss eines meiner beiden Spezialgerichte. Entweder Dosenravioli aus der Migros. Oder Dosenravioli aus dem Coop.)

Ich bin definitiv erwachsen geworden. Je älter ich werde, desto mehr schraube ich Erwartungen runter. Früher träumte ich von einer Villa auf einem Hügel, mit Garten und Pool. Heute hätte ich gerne einen Tumbler. Als Teenies tranken wir an Partys dutzende Drinks. Heute überlege ich mir, ob ich nach dem Mittagessen wirklich noch einen Kaffee trinke, schliesslich hatte ich schon drei und kann dann in der Nacht vielleicht nicht schlafen. Ich mag erwachsen sein, doch ich fühle mich nicht so, von Erwachsenen-Sachen habe ich keine Ahnung. Zum Beispiel weiss ich nie, wo ich meine AHV-Nummer nachschauen kann. Ich rate dann einfach. Das kann zu seltsamen Situationen führen – am Telefon: «Name?» – «Ziegler.» – «Wohnort?» – «Olten.» «AHV-Nummer?» – «Ehm … Sieben?!»

Gleichaltrige stellen sich Fragen wie: Soll ich ein Haus kaufen? Oder: Gründen wir eine Familie? Ich hingegen stelle mir Fragen wie: «Nennt man ein telefonisches Tête-à-tête ein Tüüt-à-Tüüt?» Eigentlich könnte man jeden Tag etwas Neues lernen, Orte entdecken, den Horizont erweitern, aber ich verschwende bloss Stunden am Handy und merke, wie das Smartphone mich für dumm verkauft. (Es ist wahr, mein Telefon verblödet mich regelrecht, gerade erst habe ich mir auf dem iPhone ein Video angeschaut von einem dieser Strassenkünstler, die sich golden an­malen, auf ein Podest stellen und sich nicht bewegen. Ich war beeindruckt, wie lange der Mann still stehen konnte, bis ich nach einer Viertelstunde verstand: Das war gar kein Video, es war ein Foto.)

Wann bin ich so bequem geworden? Wo ist der Kampfgeist geblieben, wo die Leidenschaft? Ich sollte aufhören, mich zu fragen, was ich mit mir anfange, und einfach anfangen. Ich denke: Kilian, du musst die Welt verändern! Gutes tun! Grosses schaffen! Ich bin fünfunddreissig Jahre alt – wenn nicht jetzt, wann dann? Ich sollte mir ein Vorbild nehmen an meinem früheren Ich. Ein Teil von mir ist immer noch dieser kleine Junge mit grossen Träumen, der sich dagegen wehrt, erwachsen zu werden, ich bin immer noch ein elender Kindskopf, wie oft hat es mich schon gereizt, im Ibis-Hotel anzurufen, nur damit ich sagen kann: «Hallo, i bis.»

Irgendwo in mir drin bin ich immer noch ein Ritter, ein Cowboy, ein Zauberer statt Zauderer, der an Wunder statt an Wunden glaubt. Irgendwas in mir ist immer noch ergriffen von dieser ungreifbaren Sehnsucht, aber es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Mehr als einmal versuchte ich, dieses Begehren meinem besten Freund zu beschreiben: «Weisst du, ich habe dieses diffuse Gefühl, dieses Kitzeln, dieses Kribbeln, dieses Ziehen.» Er: «Das kenne ich … Nierensteine.» Vielleicht verändert man die Welt ja tatsächlich nur schon im Kleinen, wenn man das Herz am rechten Fleck hat, als unscheinbarer Alltagsheld. Ich bin überzeugt, wahre Helden tragen keine Kostüme, wahre Helden sieht man nicht im Fernsehen. Für mich ist beispielsweise ein wahrer Held einer, der es schafft, das Abstimmungs­couvert aufzureissen, ohne dass es kaputtgeht. Es gibt so viele Möglichkeiten, im Leben einen Unterschied zu machen. Warum nicht – nur so als Beispiel – ein kapitalismuskritisches Kinderbuch schreiben, über einen rätoromanischen Jungen, der am Indischen Ozean illegal mit Glocken handelt? Titel: Seychellen-Ursli.

Egal was ich mache, Hauptsache, ich werde kein zynischer alter Sack, sondern ein un­ermüdlicher Optimist. Mit weniger Selbstmitleid und mehr Zuversicht. Mit weniger Zweifeln und mehr Gelassenheit. Gerne wäre ich so entspannt wie meine Nachbarin, sie ist sechzig und zeigt, dass man in Würde altern kann. Sie ist extrem cool, als ich sie letztens im Treppenhaus sah, sagte ich: «E guete Tag!» Und sie so: «Ja.»

Also bleibe ich cool, lege die Dosenravioli zur Seite, schaue so nüchtern wie nie in den Kühlschrank, schnappe einen Kopf­-salat, lasse mich davon inspirieren und verkünde: «Für die Zukunft bin ich wie zube­reiteter Salat: gerüstet.»

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