Appenzellerbahn statt Orientexpress

Ralph Weibel | veröffentlicht am 01.05.2020

Verspüren Sie nicht ab und zu auch die Lust, jemanden zu masakrieren? Ihm die Haut in Streifen abzuziehen, den Kadaver in Säure aufzulösen und danach wieder zurückzukehren ins Büro, um mit Langeweile den Unterhalt für ein biederes Leben zu verdienen?

Appenzellerbahn statt Orientexpress
Jürg Kühni |

 Allzu oft ist die spannendste Frage in unserem Leben, ob das Open Air St.?Gallen ausverkauft ist, oder wie das Olma-Plakat in diesem Jahr aussieht. Kein Wunder leben wir deshalb getreu dem Motto «Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett». Für eine Prise Extrakick tauchen wir täglich ein in die finstere Welt von Mord und Totschlag. Für Lesefaule als Tatort im Fernsehen inszeniert, für die anderen zwischen Buchdeckel gepresst. Das ist gut so. Wenn alle mordend durch die Städte und Dörfer ziehen würden, gäbe das eine echte Sauerei. Gut, dass uns Krimi-Autorinnen und -Autoren zur Kompensation in die Welt der Fantasie abtauchen lassen.

Am hellichten Tag
Leider gelingt das nicht allen so wie Friedrich Dürrenmatt, der es 1958 am helllichten Tag geschehen liess. Ein verfilmtes Werk, welches Gänsehaut machte und Generationen um den Schlaf brachte. Ganz zu schweigen von Agatha Christies 1974 verfilmtem «Mord im Orient Express». Vor zwei Jahren wurde dieser neu hingerichtet und führte zu Kritiken wie: «Regisseur Branagh ist der Schuldige in diesem vermasselten Krimi.»

So wie das Talent nicht bei jedem Amateurfussballer für ein Engagement bei Real Madrid oder dem FC Bayern reicht, sondern nur für das Gekicke auf holprigen Provinzplätzen, so kann nicht jeder einen Bestseller schreiben. Geschrieben wird trotzdem wie wild. Dabei sind sich viele Autorinnen und Autoren treu und bleiben gleich in der Provinz. Sprich, sie machen es sich zur Aufgabe, einen Krimi da anzusiedeln, wo sie selber leben. «Aus der Region, für die Region» lautet das Motto. Oder anders formuliert: «Mord in der Appenzellerbahn» statt im Orientexpress.

Das spielt einem schon die Ingredienzen für eine packende Geschichte zu. Ein mysteriöser Unort – wer schon einmal mit der Appenzellerbahn gefahren ist, weiss, wovon hier die Rede ist –, an dem sich beliebig Personen ansiedeln lassen. Das Ganze spielt in einer Umgebung, die vom Bodensee bis zum Säntis alles bietet, was irgendwann eingesetzt werden kann. Das Wichtigste sind natürlich Protagonisten. Angefangen beim Helden, der den Fall am Schluss löst. Es ist wichtig, dass die Straftat aufgeklärt wird, die Leserschaft darf nicht im Ungewissen zurück­bleiben. In Gender-Zeiten empfiehlt sich
als Held eine Heldin oder ein Transgender. Eine Person muss zwingend sterben, am besten ziemlich früh in der Geschichte. Wie übel die Leiche zugerichtet ist, ist Geschmackssache. Stellen Sie sich die Me­nage in einem Bergrestaurant vor. Wollen Sie mehr Blut, streuen Sie etwas Aromat dazu, Maggi steht für Verstümmelung.

«Jöh, wie herzig»
Der Einsatz von Nebenrollen sollte die Anzahl an Verdächtigen nicht übersteigen. Immer passend ist etwas Sozialkritisches, unerlässlich Sex oder wenigstens Liebe. Nicht schlecht ist ein Motiv, welches erst gegen Schluss hin ersichtlich wird. Mit Tieren muss man vorsichtig sein. Zwei, drei Hunde, eine Katze oder ein Papagei dürfen es sein, aber immer mit der Aussage «Jöh, wie herzig». «Zieh nie einer Katze das Fell ab», heisst die Regel. Jetzt fehlt nur noch etwas Schreibstil. Erwähnen Sie als Lokal-KrimiautorIn Orte, die jeder kennt. Charakterisieren Sie Per­sonen nicht einfach mit Beschreibungen wie «Er ist ein Looser». Schreiben Sie: «Er trägt ein Trikot der Grasshoppers.» Mit diesen Zutaten entsteht garantiert ein packender Krimi, der in der Kurzform etwa so geht:

Das Blut der Kopfwunde gerann auf der Leiche neben der Bahnstrasse der Appenzellerbahn in der Lustmühle. Kommissarin Schwegler war mit ihrem Regenbogen-Shirt etwas zu fröhlich gekleidet. Die Morgensonne küsste das Appenzellerland wach. «Es ist die Kontrolleurin der letzten Fahrt», erklärt der Gerichtsmediziner. «Erschlagen.» Auf Bildern der Überwachungskamera sind Landeier zu sehen, wie sie vom Ausgang zurück in die Provinz fahren. Alle werden überprüft, mehr als exzessiver Cannabiskonsum kann nicht nachgewiesen werden. Interesse weckt ein verwahrloster Mann mit einem grossen Käfig. Zugestiegen am Marktplatz. Die Ermittlungen ergeben, dass die Zug­begleiterin mit dem Käfig erschlagen wurde, in welchem der Tatverdächtige einen Papagei mitführte. Er wollte mit diesem zu seiner grossen Liebe fahren. Als Sozialhilfeempfänger hatte er kein gültiges Billett. Gestellt von der Zugbegleiterin, erschlug er die achtfache Mutter im Affekt. Nach einer Grossfahndung wurde der Mann im Wald unter der Hundwilerhöhe verhaftet. Vom Papagei fehlt jede Spur. Will man so was lesen?

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