Tunnelblick

Marco Ratschiller | veröffentlicht am 06.11.2020

Tunnelblick
Michael Streun | (Nebelspalter)

Eine der grossen ungeklärten Daseinsfragen ist die, ob es im Jenseits Humor gibt. Mit ihrer Beantwortung würde sich praktischerweise gleich die noch etwas häufiger gestellte Frage erledigen, ob es überhaupt ein Jenseits gibt. Über das Lachen nach dem Tod schweigen sich die Weltreligionen beunruhigend einmütig aus. Die Bibel strotzt vor Gleichnissen und Psalmen, aber Pointen und Witze kann man lange suchen.

Unbestritten ist allerdings, dass der letzte Weg auf die andere Seite meist nicht besonders heiter ist. Die Fähre über den Jordan ist kein Partyboot, weder für Passagiere noch für die am diesseitigen Ufer Zurückgebliebenen. Noch bevor sich die Corona-Pandemie auf der Welt ausgebreitet hatte, war für diese Ausgabe das Schwerpunktthema «Exit» vorgesehen. Obwohl der fik­tive Tod zwischen Krimi-Buchdeckeln und auf Tatort-Bildschirmen allgegenwärtig ist, spielt das reale Sterben in unserem Alltag kaum eine Rolle. Das mag auch erklären, weshalb wir uns so schwer mit dem Lachen tun, sobald der Tod dann doch einmal mit einer Hauptrolle in unser Leben platzt. Warum ist das so? Wird sonst nicht unablässig betont, wie wichtig und gesund Humor ist? Wie befreiend Satire in Krisenzeiten wirkt? Aus diesem Grund hat der ‹Nebi› entschieden, dem Tod seine geplanten Themenseiten zu widmen, gerade auch, weil er in diesen Tagen real überall präsent ist. Wer es schafft, über den Tod zu lachen, überwindet immer auch ein wenig die Angst vor ihm.

Unsere Titelseite zeigt die BAG-konforme Parodie auf ein berühmtes Gemälde von Hieronymus Bosch, entstanden vor über 500 Jahren. Das Original wird gerne verwendet, wenn es um die Illustration von Nahtoderfahrungen geht. Den häufig geschilderten Lichttunnel hat Bosch künstlerisch eindrücklich umgesetzt: Ins Jenseits gelangt man vollkommen nackt, eine Sonnenbrille könnte allerdings nicht schaden. Nicht bekannt ist, ob der Maler selbst über fundierte Nahtoderfahrungen verfügte oder ob er wie die allermeisten nur ein einziges Mal final in die Röhre geguckt hat. Womit nebenbei wenigstens die Herkunft dieser Redensart geklärt wäre.

Die genauere Betrachtung des Bildes offenbart, dass sich Bosch bei seinem Blick ins Jenseits noch ein wenig weiter vorgewagt hat: Am Ende des Tunnels winken uns zwei Unbekannte zu. Neue Erkenntnis bringt das allerdings nicht: Egal, ob es sich bei den Unbekannten um bereits verstorbene Liebste oder um die erhofften Sonnenbrillenverkäufer handelt, freundliches Winken beweist noch keinen vorhandenen Humor.

Falls Humor also nur eine diesseitige Errungenschaft ist, um mit den irdischen Unzulänglichkeiten einigermassen zurecht­zukommen, sollten Sie auf Nummer sicher gehen: Lachen Sie, so oft Sie können. Das Beste daran: Es ist risikolos ansteckend.

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