
Über einem Waldstück im bayrischen Allgäu kreiste kürzlich ein Helikopter der Polizei, dessen Aufgabe es war, der ebenfalls ausgerückten Bodeneinheit zu helfen, eine Person in Not zu orten. Ausgelöst hatte den Einsatz ein aufgeschreckter Spaziergänger, der aus dem Waldstück laute Schreie vernahm. Diese führten die Einsatzkräfte schliesslich zu einer Personengruppe, die sich unter freiem Himmel einer Schreitherapie unterzog.
Der Polizeirapport hielt abschliessend fest: «Die Teilnehmer versicherten nach eindringlicher Belehrung, im Rahmen einer Schreitherapie künftig nicht mehr zu schreien.» Es ist eine Aussage, die – wenn auch mit einem Augenzwinkern zu verstehen – exemplarisch für eine Gesellschaft steht, die den Umgang mit Wut verlernt hat und mit ihr einen gar kümmerlichen Umgang pflegt.
Kein Platz für Kragen
Und das kommt nicht von ungefähr. Die grossen Philosophen und Denkerinnen vergangener Tage sahen in der Wut schon seit jeher nur Negatives. Sie nannten sie sogar allen Ernstes eine «kurze Geisteskrankheit» (Seneca) oder eine «typische Emotion von Schwachen», die Francis Bacon als Alte, Kranke, Frauen und Kinder definierte. Auch die katholische Kirche verkennt die Sonnenseiten des schnell Aufbrausenden, schliesslich listet sie den Zorn unter den sieben Todsünden.
Für platzende Krägen ist in unserer Gesellschaft kein Platz, das zeigt sich ganz besonders am Arbeitsplatz: Keiner, der noch ein Team führen darf, obwohl er zwischendurch die Beherrschung verliert, keiner, der dem Chef sagt, er sei ein Arschloch, und seine Stelle dennoch behalten kann, und keiner, der es weit bringt, ohne dass er sich und seine Emotionen absolut «im Griff» hat und dabei auch noch lächelt. Wo früher deutsche Bundestrainer wie Rudi Völler ihrem Interviewer Alkoholismus unterstellten oder «Parteipräsidenten in Blochers Gnaden» aus TV-Sendungen stürmen durften, werden die Emotionen heute unterdrückt und damit umgelagert – etwa ins Internet.
Online wütet sich einfacher
Besonders auf Online-Plattformen wie Facebook kommt es im Minutentakt zu Wutanfällen. Die sogenannten «Hate Speeches», da sind sich Psychologen einig, rühren von an anderer Stelle unterdrückter Wut und entladen sich deshalb umso heftiger, da nicht mit einer unmittelbaren Gegenreaktion gerechnet werden muss. Online wütet es sich aber auch deshalb einfacher, weil sich Nutzerinnen und Nutzer spielend leicht in einen anonymen Avatar verwandeln können, wenn sie ihren Zorn ungefiltert in die Atmosphäre blasen.
Und das ist durchaus problematisch. Klar, in Corona-Zeiten kann man es pragmatisch als «Berufsrisiko» abtun, wenn sich der Online-Hass über Regierungsmitglieder wie Alain Berset oder Staatsoberhäupter wie Angela Merkel ergiesst. Bei täglich über 700 Fällen von Cybermobbing, die 2020 in der Schweiz gezählt wurden, muss einem das aber schon zu denken geben, zumal sich diese Form der umgelagerten Wut meist gegen Schülerinnen und Schüler richtet.
Schranken anschreien
Dass Wut, Frust und Zorn rausmüssen, ist völlig klar. Doch wohin mit all diesen negativen Emotionen, die im Alltag keinen Platz mehr haben und in den anonymen Weiten des Internets weit über das Ziel hinausschiessen? Eine Möglichkeit ist exzessives Sporttreiben. Schliesslich hat man nicht selten davon gehört, dass eine Athletin oder ein Athlet nur dank der «Wut im Bauch» zur Höchstleistung imstande waren.
Und wenn Ihnen das zu anstrengend ist, wählen Sie Ihren Wohnort so, dass Sie auf dem Weg zur Arbeit täglich an einer Bahnschranke vorbeifahren. Diese ist bekanntlich immer dann unten, wenn Sie’s besonders eilig haben. Das tägliche Anschreien der Bahnschranke sorgt dafür, dass sich die Wut nicht anstaut – und sollte bei geschlossenen Fenstern auch keinen Polizeieinsatz auslösen.