Experten im Spiegel

Marco Ratschiller | veröffentlicht am 01.04.2021

Haben Sie vielleicht gerade eine Werbepause lang Zeit, während zwischen der 28. «Corona»-Arena und dem anschliessenden Weltuntergangsepos aus Hollywood das gefrorene Bananenbrot vom ersten Lockdown in der Mikrowelle auftaut?

Experten im Spiegel
Marina Lutz | (Nebelspalter)

Weiter hinten im Nebelspalter gibt es diese schöne Rubrik, in der jeweils vier prominente Persönlichkeiten mit Porträtkarikatur und Grussbotschaft für ihren runden Geburtstag abgefeiert werden. Obwohl das Geborenwerden bekanntlich keine grosse Leistung ist, im Gegensatz zum Gebären. Oder zum Überleben. Einer besonderen Persönlichkeit möchten wir nun an dieser Stelle zu ihrem Jubiläum gratulieren, sogar etwas ausführlicher. Einer besonders machtversessenen, brutalen und widerwärtigen Persönlichkeit. Glückwunsch zum zehnten Kriegsjahr, Bassar al-Assad!

Huch, werden Sie nun bestimmt sagen, das ging jetzt aber schnell! Der Schlächter von Damaskus darf sich schon zehn Dynamitstangen auf die Eisbombe stecken? Ja, so ist es – und im Gegensatz zum Geborenwerden beruht dieser Jahrestag zu 100 Prozent auf seiner eigenen Leistung. Wie undankbar ist es da von uns, dass diese Leistung noch nicht einmal ein eigenes Wort besitzt. Es gibt doch sonst auch für alles ein Wort. Aber «Genozid am eigenen Volk», dafür gibts tatsächlich keinen eigenen Fachbegriff.

Orient-Express
Zugegeben: Leider haben wir Assads Wirken ein wenig aus den Augen verloren. Dabei war einmal alles ganz anders. Können Sie sich noch an die Zeit zurückerinnern, als noch nicht jeder Virologe war? Oder Klimatologe? Anfang 2011, da waren wir tatsächlich einmal alle Nahost-Experten. Wir blickten angetan auf die andere Seite des Mittelmeers, wo der arabische Frühling sich anschickte, autoritäre Einöden in blühende, demokratische Gärten zu verwandeln. In Echtzeit fieberten wir mit, wie sich die Überlegenheit unserer Werte endlich auch in Tunis, Tripolis und Kairo Bahn brach. Gut, sie brach zwar dann ziemlich rasch wieder zusammen, diese Bahn. Am Ende gewann der Demokratie-Express eigentlich nur den einen Bahnhof in Tunesien dazu. Am heftigsten aber entgleiste er in Syrien.

Zeit ist immer relativ
Als 2011 auf den Strassen von Damaskus die ersten Demonstranten über den Haufen geschossen wurden oder in den Folterkellern verschwanden; als schliesslich an der Diagnose «Bürgerkrieg» kein Weg mehr vorbeiführte, da hörte manch ein deutschsprachiger Fernsehzuschauer bei sich zu Hause auf dem Sofa mit leichtem Schaudern
den bekannten Nahost-Kenner Peter Scholl-Latour sagen, dass der steinige Weg zurück zum Frieden sicher vier, fünf Jahre in Anspruch nehme werde. Damals, in den ersten Wochen des bewaffneten Konflikts, wirkte diese Aussage verstörend und unglaublich pessimistisch. Dabei war sie allzu optimistisch. Die Rückkehr zum Frieden sollte Scholl-Latour, der 2014 mit 90 Jahren verstarb, genauso wenig erleben wie geschätzte 388?000 Syrerinnen und Syrer, die im Krieg bislang ihr Leben liessen. Heute sind 70 Prozent der im Land Verblieben auf humanitäre Hilfe angewiesen, die Hälfte aller Syrerinnen und Syrer jedoch lebt im Exil, meist unter prekären Umständen.

Die einen gingen, die anderen ka-men: Was als Bürgerkrieg zwischen Regime und Opposition begann, wandelte sich rasch zum Schlachtfeld für alle. Zwischen Aleppo, Homs und Damaskus traf sich die Welt zu einer ungezwungenen Partie Todesschach. Gespielt wurde nicht auf schwarzen und weissen Feldern, sondern auf blutgetränkten und sarinvergifteten. Nicht mit 32 Spielfiguren, sondern mit zeitweilig über 600 Kriegsparteien, von denen in Anlehnung an die heisenbergsche Unschärferelation niemand mehr sagen konnte, mit wem, gegen wen und warum überhaupt gerade gekämpft wurde.

Doch da hatten wir schon längst wieder aufgehört, Nahostexperten sein zu wollen. Die Sache wurde uns irgendwann einfach zu kompliziert und langfädig. Fussballexperte sein ist auf Dauer einfacher. Und Massnahmen-Kritiker derzeit gefragter.

Heute, nach zehn Jahren Krieg, liegt das Land in Trümmern, weil eine einzige Person ihre Macht nicht abgeben wollte. Falls Ihnen dazu eine Pointe einfällt, können Sie die uns gerne zukommen lassen. Übrigens auch, falls Sie eine Vorstellung haben, wie es im Kopf eines solchen Menschen aussehen könnte. Wie kann ein Bassar al-Assad morgens, wenn er seine fliehende Kinnpartie jeweils so gründlich kahlrasiert hat wie die Demokratiebewegung – wie kann er da im Spiegel seinen eigenen Anblick ertragen?

Vielleicht ist das gar nicht so schwer. Schliesslich können wir das im Kleinen ja auch. Wir, die Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft, die zu Hause auf unseren Sofas sitzen und irgendwann überfordert weiterzappen, wenn ein politischer Aufbruch nicht nach dem Drehbuch eines Rosamunde-Pilcher-Films verläuft und nach 90 Minuten und einer Schale Popcorn für alle happy endet.

So richtig geklappt hat es bis jetzt nur in Science-Fiction-Streifen, wenn die integrale Menschheit wahlweise von Aliens/Riesenechsen/Killerrobotern bedroht ist. Dann schafft es die Welt stets im letzten Moment, sich zusammenzuraufen und das Gute siegen zu lassen. Draussen vor der Tür aber, da wird aus der Werte- einfach eine Härtegemeinschaft, die ungerührt die letz­en Momente anderer in Kauf nimmt, wenn das dafür bei uns Wohlstand und Stabilität sichert. So, und jetzt hat die Mikrowelle geklingelt.

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