Das geht unter die Haut

Ralph Weibel | veröffentlicht am 30.04.2021

Tut mir leid, ich muss es an dieser Stelle offen und ehrlich gestehen, ich bin nicht tätowiert. Das ist in der heutigen Zeit ja doch eher aussergewöhnlich. Kein Drache auf dem Schulterblatt, kein Tiger in der Leistengegend, keine japanischen Schriftzeichen auf dem Rücken, nichts.

Das geht unter die Haut
Ramses Morales Izquierdo | (Nebelspalter)

Wahrscheinlich denken Sie jetzt, ich wäre zu feige dazu, meinen Körper mit ein paar Nadelstichen zu verschönern. Doch der Grund ist wesentlich banaler. «Wer schön sein will, muss leiden», heisst es, aber ich versichere Ihnen, ich leide auch hässlich. Zudem bin ich überzeugt, dass uns das Leben ohnehin zeichnet. Da müssen wir nicht nachhelfen. Dennoch haben sich Tätowierungen seit den 1990er-Jahren explosionsartig verbreitet. Glücklicherweise blieb ich von dieser Ex­plosion verschont. Viele Frauen hatte es ja voll erwischt. Die meisten von ihnen in der Lenden­gegend, kurz über dem Steiss.

Erschlaffend zulegen
Ich geb es zu, Arschgeweihe sehen toll aus. Vor allem über einem jungen, knackigen Hintern. Genauso wie ein Tribal auf einem muskulösen Oberarm. Doch leider hat die Wissenschaft noch nichts gegen den Alterungs­prozess erfunden. Und so wie bei einem Hirsch das Geweih jedes Jahr grösser wird, legen die meisten Menschen mit den Jahren etwas zu und erschlaffen gleichzeitig. Ein Phänomen der Natur. An den Spätfolgen der jugend­lichen Nadelstiche leiden vorab wir Betrachter. Da hängt das kunstvolle Ornament plötzlich wie der Oleander, dem die Nachbarin über die Ferien vergessen hatte, genügend Wasser zu geben.

Auch wenn es Tätowierungen schon seit über 7000 Jahren gibt, die Evolution hat sich diesem Problem nicht angenommen. Ausgerechnet da, wo Tattoos nämlich am verführerischsten sind, liegen auch die Problem­zonen. Beispielsweise kurz unter dem Bauch, über der Schamgegend. Sicher kennen auch Sie jemanden, der dort einen Delfin unter der Haut trägt. Nun, gerade in jener Gegend gibt es sehr viel Fettgewebe. Wenn sich dieses ausdehnt, mutiert ein fröhlicher Delfin zum Pottwal.

Einige Leute verzichten angesichts des natürlichen Alterungsprozesses auf realistische Darstellungen. Sie lassen sich lieber Weisheiten mit asiatischen Schriftzeichen stechen, obschon sie weder Japanisch noch Chinesisch sprechen. Weil es ohnehin keiner lesen kann, spielt es keine Rolle, wenn sich die Schrift mit den Jahren etwas verzieht. Obschon – meines Wissens – die Asiaten überhaupt keine kursiven Schriftzeichen kennen.

Frage mich zudem, ob der Tätowierer überhaupt versteht, was er da schreibt. Das Vertrauen muss schon grenzenlos sein, wenn man unversehrt in ein Tattoo-Studio geht, um sich etwas Tiefsinniges unter die Haut stechen zu lassen, aber nie weiss, ob der bildungsferne Tätowierer nicht vielleicht anstel­le von «Der Weg ist das Ziel» «Hier fehlt ein Wegweiser» geschrieben hat. Oder anstelle von «Unverhofft kommt oft» steht da «Ich komm oft zu früh». Dann lässt man sich doch besser etwas in seiner Muttersprache tätowieren. Oder zum Vergnügen des Betrachters ein Kreuzworträtsel oder ein Sudoku.

Durchstich
Unproblematischer ist da eine ganz andere Form der körperlichen Entstellung, die sich wieder entfernen lässt: Piercing. Während in den 1960er-Jahren die Punks damit noch die Gesellschaft zu schocken versuchten, schockiert heute höchstens noch der Gedanke, wie sich Menschen freiwillig Metall durch alle möglichen und unmöglichen Körperteile stechen lassen. Muss verdammt wehtun! Ob man nun ein billiges Diamant-Imitat im Bauchnabel, eine beringte Lippe, einen Knopf auf der Zunge oder ein Ringlein in einer Brustwarze, am Sack oder in der Schamlippe schön findet oder nicht, ursprünglich hatte Piercing nur ein Ziel: den Menschen zu entstellen. Was bis heute erreicht wird. Im 18. Jahrhundert piercten afrikanische Stämme ihre Frauen, damit sie unattraktiv für Verbrecher­banden waren. Da müssen Sie mal dran denken, wenn Sie das nächste Mal jemanden mit einem Piercing sehen.

Mich schaudern Piercings im Gesicht. Ich frage mich, wie mit einem Ring in der Lip­pe getrunken werden kann, ohne sich das Hemd vollzusabbern. Oder wie es sich mit einer gepiercten Zunge küssen lässt. Ich hatte schon als Kind Angst, Martina einen Kuss zu geben, die hatte eine Zahnspange. Ganz zu schweigen davon, was so ein Zungen-Piercing alles über sich ergehen lassen muss: Spaghetti, Schoggi-Mousse oder Wodka-Red-Bull. Angesichts der immer grösser werdenden Belastung durch Elektro-Smog frage ich mich zudem, ob so ein metalli­sierter Kopf nicht wie eine Antenne wirkt. In den betreffenden Köpfen muss ständig ein Gewirr von CNN, Facebook und Polizeifunk herrschen. Bleibt zu hoffen, dass nicht auch noch ein Blitz einschlägt.

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