
Stimmt es, dass Sie im Besitz der halben Wahrheit sind? So ist es und nicht anders. Sie hat sich mir angeboten, daraufhin habe ich sie gerne als die Meine akzeptiert.
Bitte erzählen Sie uns doch, wie es dazu kam.
Ganz unspektakulär. Es war vor knapp einem Jahr, Dienstagmorgen, kurz nach sieben Uhr. Ich öffnete die Haustür, um die Zeitung aufzuheben, aber die halbe Wahrheit hielt sie schon in der Hand und überreichte sie mir.
Hat sie sich Ihnen vorgestellt?
Na klar! Und natürlich auf die ihr eigene Weise. Über die Zeitung hinweg lächelte sie mich an. In diesem Augenblick erkannte ich sie, obwohl sie mir ja bis dahin noch nie begegnet war.
Und wie sieht sie aus?
Sehr erfreulich. Dabei verändert sie sich immer wieder für mich. Meine Ansprüche sind ja nicht immer dieselben. Unbedingt will mir die halbe Wahrheit gefallen.
Befürchten Sie nicht, sie damit zu überfordern?
Ach was! Ihr graut doch vor Langeweile, das wechselhafte Aussehen liegt in ihrer Natur. Überfordert wäre sie, wenn sie die ganze Zeit gleich sein müsste.
Hat sie Ihnen das gesagt?
Verraten hat sie es mir. Wir sprechen ja nicht, wir denken miteinander. Die halbe Wahrheit weiss, was ich denke. Ich weiss, was sie denkt.
Geschieht denn das Denken in unserer Sprache?
Die Gedanken der halben Wahrheit sind so kraftvoll, dass sie zu deren Übermittlung keine Sprache braucht. Und nicht weniger kraftvoll dringt sie in meine Gedankenwelt ein. Eine Menge aussergewöhnliche Fähigkeiten hat sie. Die ganze Welt könnte sie auf den Kopf stellen, wenn sie nur wollte. Vielleicht hat sie es sogar schon einmal getan. Jedenfalls ist die Unterhaltung mit der halben Wahrheit ein grosses Vergnügen für mich. Stundenlang unterhalten wir uns schweigend. Alle, die diese interessante Möglichkeit nicht haben, tun mir beinahe ein bisschen leid.
Fragen Sie die halbe Wahrheit doch bitte, ob sie es bereits einmal getan hat!
Was getan?
Die Welt auf den Kopf gestellt.
Mehrmals sogar, lässt Ihnen die halbe Wahrheit ausrichten.
Das nenne ich eine aufschlussreiche Antwort!
Prima – nicht wahr?
Ich bin zutiefst beeindruckt.
Darüber ist die halbe Wahrheit erfreut – sie hat mich gebeten, Ihnen das mitzuteilen.
Kann sie mit mir nicht direkt kommunizieren?
Natürlich könnte sie. Sie möchte aber nicht.
Schade. Sehen darf ich so wohl auch nicht?
Genau. Sie hat ja überhaupt nichts davon, wenn sie sich von jedem angaffen lässt.
Befindet sie sich fortwährend in Ihrer Nähe?
Klar! Zu mir gekommen ist sie, weil sie bei mir sein will. Sie ist absolut anhänglich.
Sitzt oder steht sie jetzt gerade neben Ihnen?
Sie sitzt neben mir auf dem Sofa und hört uns aufmerksam zu.
Sehr gerne hätte ich sie wenigstens für einen kleinen Augenblick gesehen!
Darauf müssen Sie verzichten, egal wie oft Sie deswegen jammern. Und behaupten Sie jetzt bloss nicht, ich hätte Ihnen versprochen, dass Sie die halbe Wahrheit zu sehen bekommen werden.
Apropos verzichten – verzichten Sie inzwischen aufs Fernsehen, weil Sie sich mit der halben Wahrheit stundenlang schweigend unterhalten?
Ein ganz und gar abwegiger Gedanke ist das! Gemeinsam hocken wir vor dem Fernsehapparat. Der halben Wahrheit gefällt jedes Programm. Aber am liebsten hat sie politische Diskussionen. Sie lacht über diese so genüsslich, dass ich gar nicht anders kann, als ebenfalls mitzulachen.
Gratulation! Darf ich notieren, dass Sie mit der halben Wahrheit glücklich sind?
Bevor ich darauf antworte, erwarte ich, dass Sie mir erklären, was Sie unter Glück verstehen.
Ich möchte stattdessen etwas anderes fragen. Geht es Ihnen, seit Sie mit der halben Wahrheit leben, besser als zuvor?
Unterhaltsamer ist es mit ihr. Und seit sie mir gehört, möchten mich alle kennenlernen.
Das gefällt Ihnen?
Na ja, leben kann ich davon. Eine Talk-Show nach der anderen und Leute wie Sie, die für Interviews bezahlen. Und gestern habe ich nun auch angefangen, ein Buch über die halbe Wahrheit zu schreiben. Mehrere Verlage sind scharf drauf. In meiner Geschichte wird es natürlich nicht nur um meine halbe Wahrheit gehen, sondern auch um die andere. Ihnen ist hoffentlich klar, dass es eine zweite halbe Wahrheit gibt, ohne diese wäre meine halbe Wahrheit nur irgendjemand, aber nicht die, die sie unter den gegebenen Umständen wirklich ist. Die andere halbe Wahrheit wird Ihnen bestimmt schon über den Weg gelaufen sein – unbemerkt vermutlich.
Ist Ihr Verhältnis zu Ihrer halben Wahrheit völlig ungetrübt?
Keine einzige Enttäuschung habe ich mit ihr bis heute erlebt. Wir verstehen und wir ergänzen uns, wie es besser gar nicht sein könnte. Dabei lerne ich sie und auch mich selbst ununterbrochen besser kennen. Tagtäglich gibt mir meine halbe Wahrheit zu verstehen, was für ein toller Kerl ich bin.
Fassen Sie Ihre halbe Wahrheit manchmal an?
Schluss jetzt aber! Ich finde, dass ich Ihnen für einen Tausender bereits mehr als genug erzählt habe.
Dann bedanke ich mich, dass Sie mich in Ihrem Haus empfangen haben. Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Unterhaltung mit Ihrer halben Wahrheit.
Und ich Ihnen mit der anderen. Ich rate Ihnen, halten Sie Ausschau nach ihr!